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Verschwunden
Blake Pierce


Ein Riley Paige Krimi #1
Frauen werden im ländlichen Virginia tot aufgefunden – alle auf groteskte Weise getötet – und als das FBI den Fall übernimmt sind sie ratlos. Ein Serienmörder ist unterwegs, die Abstände zwischen den Morden werden immer kürzer und sie wissen, dass nur ein Agent gut genug ist um den Fall zu lösen: Spezialagentin Riley Paige. Riley ist beurlaubt, um sich von ihrer Begegnung mit dem letzten Serienmörder zu erholen, und so zerbrechlich wie sie ist, widerstrebt es dem FBI ihren brillianten Kopf zu nutzen. Trotzdem nimmt Riley, die sich ihren eigenen Dämonen entgegenstellen muss, den Fall an und ihre Suche führt sie durch die verstörende Subkultur von Puppensammlern, in die Häuser von zerbrochenen Familien, und in die dunkelsten Ecken des Verstandes eines Mörders. Während Riley sich Schicht für Schicht durch den Fall arbeitet wird ihr bewusst, dass sie es mit einem Killer zu tun hat, der verdrehter ist als sie es sich hätte vorstellen können. In einem wilden Wettlauf mit der Zeit wird Riley bis an ihr Limit gebracht – ihr Job steht auf dem Spiel, ihre eigene Familie ist in Gefahr und ihre zerbrechliche Psyche kurz vor einem KollapsAber sobald Riley Paige einen Fall annimmt gibt sie nicht auf, bis er gelöst ist. Er vereinnahmt sie, führt sie in die dunkelsten Ecken ihres eigenen Verstandes, verwischt die Grenze zwischen Jäger und Gejagtem. Nach einer Reihe von unerwarteten Wendungen führen ihre Instinkte sie zu einem schockierenden Finale, das alle überrascht. VERSCHWUNDEN, ein düsterer Psychothriller mit Spannung die für Herzklopfen sorgt, ist das Debüt einer fesselnden neuen Serie – und einer faszinierenden neuen Heldin – die uns bis spät in die Nacht wachhält. Band 2 in der Riley Paige Serie ist bald erhältlich.





Blake Pierce

VERSCHWUNDEN (EIN RILEY PAIGE KRIMI—BAND 1)




Blake Pierce

Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi und Thriller Genres. ONCE GONE ist Blakes Debütroman. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com (http://www.blakepierceauthor.com/), wo Sie sich für den Email Newsletter anmelden können, um ein kostenloses Buch und Hinweise auf kostenlose Giveaways zu bekommen. Verbinden Sie sich mit ihr auf Facebook und Twitter und bleiben Sie in Kontakt!

Copyright В© 2015 Blake Pierce.

Aus dem Englischen von Marina Sun.

Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden.

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Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig.

Titelbild Copyright GoingTo, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com.




Prolog


Ein schmerzhafter Muskelkrampf ließ Rebeccas Kopf nach oben schnellen. Sie riss an den Seilen, die ihren Körper fesselten. Ihr Bauch war vertikal an das Rohr gebunden, das in der Mitte des kleinen Raumes durch Schrauben an der Decke und am Boden fest verankert war. Ihre Handgelenke waren vor ihr gefesselt und ihre Knöchel waren ebenfalls mit einem Seil zusammengebunden.

Sie bemerkte, dass sie weggedöst sein musste und war sofort hellwach als die Angst sie wieder durchfuhr. Sie wusste, dass der Mann sie töten würde. Stück für Stück, Wunde für Wunde. Er hatte es nicht auf ihren Tod abgesehen und auch nicht auf Sex. Er wollte nur ihren Schmerz.

Ich muss wach bleiben, dachte sie. Ich muss hier raus. Wenn ich wieder einschlafe, dann sterbe ich.

Trotz der Hitze in dem kleinen Zimmer zitterte ihr nackter Körper vor kaltem Schweiß. Sie sah an sich herunter. Ihre Füße standen barfuß auf dem Hartholzboden. Die Fläche um ihre Füße herum war übersät mit getrockneten Blutflecken; ein sicheres Zeichen dafür, dass sie nicht die erste Person war, die er hier festgehalten hatte. Ihre Panik vertiefte sich.

Er war weggegangen. Die einzige Tür im Raum war verschlossen, aber er würde zurückkommen. Er kam immer zurück. Und dann würde er alles tun, was er konnte, um sie zum Schreien zu bringen. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt und sie hatte keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht war. Das einzige Licht kam von einer nackten Glühbirne die an der Decke baumelte. Wo auch immer dieser Ort war, es schien als könnte sie niemand schreien hören.

Sie fragte sich, ob dieses Zimmer früher einmal das Schlafzimmer eines kleinen Mädchens gewesen war; es war, auf groteske Weise, pink mit Verschnörkelungen und Märchenmotiven an den Wänden. Jemand—sie nahm an ihr Kidnapper—hatte seitdem den Raum verwüstet. Kleine Tische und Stühle waren zerbrochen und der Boden war übersät mit den zerrissenen Körpern von Kinderpuppen. Kleine Perücken—die der Puppen, dachte Reba—waren wie kleine Skalpe an die Wand genagelt. Die meisten waren aufwendig geflochten, aber alle hatten die unnatürlichen Farben von Spielzeug. Ein heruntergekommener, pinker Schminktisch stand aufrecht an einer Wand; sein herzförmiger Spiegel war in kleine Stücke zersprungen. Das einzige andere noch intakte Möbelstück war ein schmales Himmelbett mit einem zerrissenen pinken Baldachin. Ihr Kidnapper ruhte sich manchmal dort aus.

Der Mann beobachtete sie dann von dort mit dunklen, wachsamen Augen unter seiner Skimaske. Zuerst hatte sie in der Tatsache, dass er eine Maske trug, etwas Trost gefunden. Wenn er nicht wollte, dass sie sein Gesicht sah, hieß das doch, dass er nicht vorhatte sie zu töten und sie vielleicht gehen lassen würde, oder etwa nicht?

Aber sie verstand bald, dass die Maske einen anderen Zweck erfüllte. Sie konnte trotz der Maske sehen, dass sich dahinter ein fliehendes Kinn und ein schiefe Stirn versteckten, und sie war sich sicher, dass die Gesichtszüge des Mannes schwach und einfältig waren. Er war stärker als sie, aber kleiner, was ihn vermutlich unsicher machte. Sie nahm an, er trug die Maske um furchteinflößender zu wirken.

Sie hatte aufgehört zu versuchen ihn durch reden davon abzuhalten sie zu verletzen. Zuerst hatte sie gedacht sie könnte es schaffen. Sie wusste schließlich, dass sie hübsch war. Oder zumindest war ich das einmal, dachte sie traurig.

Schweiß und Tränen mischten sich auf ihrem zerschrammten Gesicht und sie konnte das getrocknete Blut in ihren langen blonden Haaren fühlen. Ihre Augen brannten; er hatte sie gezwungen Kontaktlinsen einzusetzen und sie erschwerten es zu sehen.

Gott weiГџ wie ich jetzt aussehe.

Sie lieГџ den Kopf fallen.

Stirb jetzt, flehte sie sich selber an.

Das sollte einfach genug sein. Sie war sich sicher, dass andere vor ihr hier gestorben waren.

Aber sie konnte es nicht. Nur daran zu denken lieГџ ihr Herz schneller schlagen, ihren Atem heftiger werden, sich gegen das Seil um ihren Bauch wehren. Langsam, als sie verstand, dass sie ihrem unmittelbaren Tod bevorstand, stieg ein neues GefГјhl in ihr auf. Es war weder Panik noch Angst. Es war keine Verzweiflung. Es war etwas anderes.

Was fГјhle ich?

Dann wurde ihr klar, es war Wut. Nicht auf ihren Kidnapper. Sie hatte ihre Wut auf ihn schon lange verbraucht.

Ich bin es, dachte sie. Ich tue was er will. Wenn ich schreie und heule und schluchze und bettele, dann tue ich was er will.

Jedes Mal, wenn sie die kalte, fade Brühe schluckte, mit der er sie durch einen Strohhalm fütterte, tat sie, was er wollte. Jedes Mal, wenn sie erbärmlich jammerte, dass sie die Mutter zweier Kinder war, die sie brauchten, bereitete sie ihm größtes Vergnügen.

Ihr Verstand klärte sich mit neuer Entschlossenheit und sie hörte auf sich gegen die Seile zu drücken. Vielleicht musste sie eine andere Taktik probieren. Sie hatte sich so stark gegen die Seile gewehrt. Vielleicht war das der falsche Ansatz. Sie waren wie diese kleinen Bambusspielzeuge—die chinesischen Fingerfallen, wo man seine Finger jeweils in ein Ende steckte und je stärker man zog, desto weniger konnte man seine Finger befreien. Vielleicht war der Trick einfach sich zu entspannen; absichtlich und vollkommen. Vielleicht war das ihr Weg nach draußen.

Muskel für Muskel ließ sie ihren Körper erschlaffen und fühlte dabei jede Wunde, jede Verletzung, wo ihre Haut die Seile berührte. Und langsam merkte sie, wo die Spannung der Seile lag.

Sie hatte gefunden, was sie brauchte. Da war eine kleine Lockerung um ihren rechten Knöchel. Aber es würde nichts bringen zu ziehen, zumindest noch nicht. Nein, sie musste ihre Muskeln entspannt halten. Sie wackelte sanft mit ihrem Knöchel, ganz leicht, bis sich das Seil lockerte und sie mit mehr Kraft zog.

SchlieГџlich, zu ihrer Freude und Гњberraschung, sprang ihre Ferse aus dem Seil und sie konnte ihren ganzen rechten FuГџ herausziehen.

Sie suchte sofort den Boden ab. Nur etwa dreißig Zentimeter entfernt, inmitten der verstreuten Puppenteile, lag sein Jagdmesser. Er lachte immer, wenn er es dort liegen ließ, so quälend nah. Die Klinge, verkrustet mit Blut, blitze verlockend im Licht auf.

Sie schwang ihren freien FuГџ in Richtung Messer. Sie schwang hoch und verpasste es.

Sie ließ ihren Körper wieder erschlaffen. Sie sank Zentimeter für Zentimeter an dem Rohr herunter und streckte ihren Fuß aus, bis das Messer in Reichweite war. Sie klammerte ihre Zehen um die dreckige Klinge, zog es über den Boden und hob es dann vorsichtig mit ihrem Fuß an, bis der Griff in ihrer Handfläche lag. Sie griff das Messer mit tauben Fingern und drehte es, um langsam das Seil durchzusägen, das ihre Handgelenke hielt. Die Zeit schien stillzustehen, während sie den Atem anhielt und hoffte, betete, dass sie das Messer nicht fallen ließ. Dass er nicht zurückkommmen würde.

Schließlich hörte sie einen Riss und sie war fast geschockt zu sehen, dass ihre Hände frei waren. Sofort durchschnitt sie mit klopfendem Herzen das Seil um ihren Bauch.

Frei. Sie konnte es nicht glauben.

Für einen Moment war alles was sie tun konnte dort zu hocken, als ihre Hände und Füße durch die wiederkehrende Blutzirkulation fast schmerzhaft kribbelten. Sie fasste nach den Kontaktlinsen auf ihren Augen, dem Verlangen widerstehend sie einfach herauszureißen. Sie schob sie vorsichtig zur Seite, griff sie mit den Fingerspitzen und zog sie heraus. Ihre Augen schmerzten fürchterlich und es war eine Erleichterung als die Linsen heraus waren. Sie betrachtete die zwei kleinen Plastikscheiben in ihrer Hand und die Farbe machte sie krank. Die Linsen waren ein helles, unnatürliches Blau. Sie warf sie zur Seite.

Mit pochendem Herzen zog Reba sich nach oben und humpelte schnell zur TГјr. Sie griff nach dem TГјrknauf, aber drehte ihn nicht.

Was, wenn er da drauГџen ist?

Sie hatte keine Wahl.

Reba drehte den Knauf und zog an der Tür, die sich geräuschlos öffnete. Sie blickte den langen, leeren Flur herunter, der nur durch eine Öffnung auf der rechten Seite erleuchtet wurde. Sie schlich nackt, barfuß und leise den Flur entlang und sah, dass das Licht aus einem nur trüb erleuchteten Zimmer kam. Sie hielt inne und starrte. Es war ein einfaches Esszimmer, mit Tisch und Stühlen, alles vollkommen gewöhnlich, als würde eine Familie gleich zum Essen nach Hause kommen. Alte Spitzenvorhänge waren vor den Fenstern.

Ein neuer Horror schnürte ihr die Kehle zu. Diese Gewöhnlichkeit war verstörender als es ein Verließ hätte sein können. Durch die Vorhänge konnte sie sehen, dass es draußen dunkel war. Der Gedanke, dass die Dunkelheit es einfacher machen würde zu fliehen, ermutigte sie.

Sie drehte sich zurück in den Flur. Er endete an einer Tür – einer Tür die einfach nach draußen führen musste. Sie humpelte und lehnte sich schwer auf die kalte Messingklinke. Kalte frische Luft flutete ihre schmerzenden Lungen.

Sie fГјhlte sich gleichzeitig voller Panik und beschwingt. Die Freude der Freiheit.

Reba machte ihren ersten Schritt, bereit zu rennen – als sie plötzlich den harten Griff einer Hand an ihrem Handgelenk spürte.

Dann kam das vertraute, hässliche Lachen.

Das letzte was sie fühlte war ein hartes Objekt – wahrscheinlich aus Metall – das gegen ihren Kopf schlug. Dann fiel sie in die Tiefen der Dunkelheit.




Kapitel 1


Wenigstens hat der Gestank noch nicht eingesetzt, dachte Spezialagent Bill Jeffreys.

Während er sich noch über die Leiche beugte, konnte er nicht verhindern, dass ihm erste Anzeichen davon in die Nase stiegen. Er vermischte sich mit dem frischen Geruch von Tannen und dem klaren Dunst, der aus dem Bach aufstieg; der Leichengeruch, an den er sich schon vor langer Zeit gewöhnt haben sollte. Aber das würde er wohl nie.

Der nackte Körper der Frau war sorgfältig auf einem großen Felsen neben dem Bach drapiert worden. Sie saß aufrecht, gegen einen weiteren Felsen gelehnt, Beine gerade und gespreizt, ihre Hände an der Seite. Ein seltsamer Knick in ihrem rechten Arm war sichtbar, der auf einen gebrochenen Knochen hinwies. Das gelockte Haar war offensichtlich eine Perücke, strähnig und mit sich beißenden Blondtönen. Ein pinkes Lächeln war mit Lippenstift auf ihren Mund geschmiert.

Die Mordwaffe war noch um ihren Hals gewickelt; sie war mit einer pinken Schleife erdrosselt worden. Eine kГјnstliche Rose lag vor ihr auf dem Felsen, neben ihren FГјГџen.

Bill versuchte sanft ihre linke Hand anzuheben. Sie bewegte sich keinen Zentimeter.

“Sie befindet sich noch in der Leichenstarre,” sagte Bill zu Agent Spelbren, der auf der anderen Seite neben der Leiche hockte. “Ist nicht länger als vierundzwanzig Stunden tot.”

“Was ist mit ihren Augen?” fragte Spelbren.

“Festgenäht mit einem schwarzen Faden,” antwortete er ohne sich die Mühe zu machen näher hinzusehen.

Spelbren starrte ihn ungläubig an.

“Sehen sie selber nach,” sagte Bill.

Spelbren betrachtete die Augen.

“Mein Gott,” murmelte er leise. Bill bemerkte, dass er nicht vor Abscheu zurückschreckte. Das wusste er zu schätzen. Er hatte mit anderen Agenten gearbeitet—einige davon gleichermaßen erfahren wie Spelbren—die sich spätestens an dieser Stelle die Seele aus dem Leib kotzten.

Bill hatte bisher noch nicht mit ihm gearbeitet. Spelbren war vom BГјro in Virginia fГјr diesen Fall gerufen worden. Es war Spelbrens Idee gewesen jemanden vom BAU, der Abteilung fГјr Verhaltensanalyse, in Quantico zu rufen. Deshalb war Bill hier.

Kluge Entscheidung, dachte Bill.

Bill konnte sehen, dass Spelbren einige Jahre jГјnger war als er selbst, aber er hatte trotzdem ein verwittertes, von Erfahrungen gezeichnetes Gesicht, das ihm sympathisch war.

“Sie trägt Kontaktlinsen,” bemerkte Spelbren.

Bill sah sich die Augen näher an. Er hatte recht. Das schaurige, künstliche Blau brachte ihn dazu den Blick abzuwenden. Es war kühl hier unten neben dem Bach am frühen Morgen, aber die Augen waren schon tief in die Sockel gefallen. Es würde schwer werden den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Bill war sich sicher, dass die Leiche in der Nacht hierher gebracht und positioniert worden war.

Er hörte eine Stimme in der Nähe.

“Verdammte FBI Typen.”

Bill blickte auf und sah die drei örtlichen Polizisten, die einige Meter entfernt standen. Sie wisperten jetzt wieder unhörbar, weshalb Bill wusste, dass er die drei Worte hatte hören sollen. Sie waren von Yarnell ganz in der Nähe und nicht froh darüber, dass das FBI aufgetaucht war. Sie dachten, sie könnten mit dem Fall auch alleine umgehen.

Der leitende Parkwächter des Mosby State Park hatte das allerdings anders gesehen. Er war es nicht gewohnt etwas Schlimmeres als Vandalismus, Abfall und illegales Fischen oder Jagen zu sehen und er war sich sicher gewesen, dass die örtlichen Polizisten damit nicht fertig werden würden.

Bill war mit dem Helikopter die mehr als hundert Meilen gekommen, damit er den Tatort erreichte, bevor die Leiche bewegt wurde. Der Pilot war den Koordinaten zu einer Lichtung in der Nähe der Hügelspitze gefolgt, wo der Parkwächter und Spelbren ihn erwartet hatten. Der Parkwächter hatte sie die restliche Strecke über einen kleinen Waldweg gefahren und als sie hielten, konnte Bill den Tatort von der Straße aus sehen. Es war nur ein kurzer Weg bis zum Bach.

Die Polizisten, die ungeduldig in der Nähe standen, waren bereits über den Tatort gegangen. Bill wusste genau, was sie dachten. Sie wollten diesen Fall alleine lösen; ein paar FBI Agenten waren das Letzte, was sie sehen wollten.

Sorry, ihr Hinterwäldler, dachte Bill, aber ihr habt keine Ahnung mit was ihr es zu tun habt.

“Der Sheriff denkt, dass es um Menschenhandel geht,” sagte Spelbren. “Er liegt falsch.”

“Warum sagen Sie das?” fragte Bill. Er wusste die Antwort selbst, aber er wollte einen Eindruck davon bekommen, wie Spelbrens Kopf arbeitete.

“Sie ist Mitte dreißig, nicht mehr sehr jung,” sagte Spelbren. “Schwangerschaftsstreifen, also hat sie mindestens ein Kind. Nicht der Typ, der normalerweise gehandelt wird.”

“Sie haben recht,” sagte Bill.

“Aber was ist mit der Perücke?”

Bill schГјttelte den Kopf.

“Ihr Kopf wurde rasiert,” erwiderte er, “ also wofür auch immer die Perücke war, sie dient nicht dazu ihre Haarfarbe zu ändern.”

“Und die Rose?” fragte Spelbren. “Eine Nachricht?”

Bill betrachtete sie genauer.

“Billiges Fabrikat,” antwortete er. “Die Art, die man in jedem billigen Laden findet. Wir werden sie nachverfolgen, aber wahrscheinlich nichts herausfinden.”

Spelbren sah ihn eindeutig beeindruckt an.

Bill bezweifelte, dass irgendetwas, das sie fanden, ihnen weiterhelfen würde. Der Mörder war zu methodisch, zu vorsichtig. Die ganze Szene war mit einem gewissen Stil ausgerichtet worden, der ihn nervös machte.

Er sah, wie die Polizisten näherkamen um einzupacken. Fotos waren gemacht und die Leiche würde jeden Moment abtransportiert werden.

Bill stand auf und seufzte, als er die Steifheit in seinen Beinen spГјrte. Seine Vierzig Jahre fingen an sich langsam zu zeigen, wenn auch nur ein wenig.

“Sie wurde gefoltert,” kommentierte er bedrückt. “Sehen sie sich all die Schnitte an. Einige verheilen schon wieder.” Er schüttelte düster den Kopf. “Jemand hat sie tagelang bearbeitet, bevor er sie mit dieser Schleife getötet hat.”

Spelbren seufzte.

“Der Täter war über irgendetwas wirklich wütend,” sagte Spelbren.

“Hey, wann können wir denn einpacken?” rief einer der Polizisten.

Bill sah in ihre Richtung und zwei von ihnen grummelten leise vor sich hin. Bill wusste, dass die Arbeit hier getan war, aber er sagte es nicht. Er zog es vor diese Dummköpfe warten zu lassen.

Er drehte sich langsam um und betrachtete die Szene. Es war ein dicht bewaldetes Gebiet, alles Tannen und Zedern und viel Unterholz, mit einem Bach, der an dieser friedlichen und idyllischen Szene vorbei in den nächsten Fluss plätscherte. Selbst jetzt, im Hochsommer, würde es hier heute nicht besonders heiß werden, also würde auch die Leiche nicht sofort verrotten. Es wäre trotzdem besser sie hier rauszubekommen und nach Quantico bringen zu lassen. Die Gerichtsmediziner dort würden sich die Leiche wahrscheinlich gerne ansehen, während sie noch einigermaßen frisch war. Der Wagen des Gerichtsmediziners stand wartend hinter dem geparkten Streifenwagen.

Der Weg bestand aus nicht mehr als parallelen Spurrillen durch den Wald. Der Mörder musste hier ebenfalls entlanggefahren sein. Er hatte aber sicherlich nicht viel Zeit hier verbracht. Auch wenn das Gebiet abgelegen erschien, fuhren die Parkwächter regelmäßig Kontrolle und private Wagen waren hier nicht erlaubt. Er hatte gewollt, dass die Leiche gefunden wird. Er war stolz auf sein Werk.

Und sie war gefunden worden, von einem Pärchen frühmorgendlicher Reiter. Touristen auf gemieteten Pferden laut dem Parkwächter. Sie waren Urlauber aus Arlington, die sich auf einer Western Ranch gleich vor Yarnell eingemietet hatten. Laut dem Parkwächter waren sie vollkommen außer Fassung. Ihnen war gesagt worden, sie sollten die Stadt nicht verlassen und Bill plante sich später mit ihnen zu unterhalten.

Um die Leiche herum schien nichts Ungewöhnliches zu sein. Der Kerl war sehr vorsichtig gewesen. Er hatte etwas hinter sich hergezogen, als er vom Bach zurück zu seinem Auto ging – vielleicht eine Schaufel – um seine Fußspuren zu verwischen. Keine Spur von etwas, das absichtlich oder versehentlich zurückgelassen wurde. Alle Reifenspuren, die möglicherweise da gewesen waren, hatten die Streifenwagen und der Gerichtsmediziner zerstört.

Bill seufzte.

Verdammt, dachte er. Wo ist Riley wenn ich sie brauche?

Seine langjährige Partnerin und beste Freundin hatte Zwangsurlaub, um sich von dem Trauma ihres letzten Falles zu erholen. Und das war ein wirklich schlimmer gewesen. Sie brauchte die Zeit, und um die Wahrheit zu sagen, es bestand die Möglichkeit, dass sie nicht zurückkommt.

Aber er brauchte sie jetzt wirklich. Sie war viel klГјger als Bill und es macht ihm nichts aus das zuzugeben. Er liebte es ihrem Kopf dabei zuzusehen, wie er arbeitete. Er stellte sie sich vor, wie sie die Szene auseinandernahm und jedes noch so kleinste Detail beachtete. Sie wГјrde ihn wegen der offensichtlichen Hinweise aufziehen, die ihm mitten ins Gesicht gestarrt hatten.

Was wГјrde Riley hier sehen, das Bill nicht gesehen hatte?

Er fГјhlte sich ahnungslos und das GefГјhl mochte er gar nicht. Aber es gab nichts, was er jetzt noch daran machen konnte.

“Okay, Jungs,” rief Bill den Polizisten zu. “Bringt die Leiche weg.”

Die Polizisten lachten und klatschen sich ab.

“Denken Sie, er wird es wieder tun?” fragte Spelbren.

“Da bin ich mir sicher,” sagte Bill.

“Woher wissen Sie das?”

Bill atmete tief durch.

“Weil ich seine Arbeit schon einmal gesehen habe.”




Kapitel 2


“Es wurde für sie mit jedem Tag schlimmer,” sagte Sam Flores und zeigte ein weiteres, entsetzliches Foto auf einem riesigen Multimedia Bildschirm, der über dem Konferenztisch hing. “Bis zu dem Moment in dem er sie getötet hat.”

Bill hatte sich so etwas schon gedacht, aber er hasste es in so einem Fall recht zu behalten.

Das Büro hatte die Leiche zum BAU in Quantico gebracht, forensische Mitarbeiter hatten Fotos gemacht und im Labor waren alle nur erdenklichen Tests gestartet worden. Flores, ein Labormitarbeiter mit einer schwarzen Brille, zeigte die grausige Präsentation und die riesigen Detailaufnahmen waren eine furchteinflößende Präsenz im BAU Konferenzraum.

“Wie lange war sie tot, bevor sie gefunden wurde?” fragte Bill.

“Nicht lange,” erwiderte er. “Vielleicht seit dem frühen Abend davor.”

Neben Bill saß Spelbren, der mit ihm von Yarnell nach Quantico geflogen war. Am Kopfende saß Spezialagent Brent Meredith mit seinem immer ernsten Gesichtsausdruck. Nicht, dass Bill von ihm eingeschüchtert war – im Gegenteil. Er dachte dass sie viel gemeinsam hatten. Sie waren beide erfahrene Agenten und hatten beide schon so gut wie alles gesehen.

Flores zeigte Detailaufnahmen der Wunden des Opfers.

“Die Wunden auf der linken Seite sind älter,” sagte er. “Die auf der Rechten frischer, einige Stunden oder Minuten bevor er sie mit der Schleife erwürgt hat. Es scheint als wäre er während der Woche, in der er sie gefangen hielt, kontinuierlich gewalttätiger geworden. Es ist möglich, dass der Bruch des Arms die letzte Verletzung war, die er ihr vor ihrem Tod zugefügt hat.”

“Die Wunden sehen mir nach der Arbeit eines Einzeltäters aus,” bemerkte Meredith. “Ausgehend von dem ansteigenden Grad der Aggression vermutlich männlich. Was haben Sie noch?”

“Die leichten Stoppeln auf ihrem Kopf deuten darauf hin, dass sie zwei Tage vor ihrem Tod geschoren wurde,” fuhr Flores fort. “Die Perücke wurde aus verschiedenen Perücken zusammengenäht, alles billiges Material. Die Kontaktlinsen wurden vermutlich online geordert. Und noch etwas,” sagte er und schaute zögernd in die Runde. “Er hat sie von Kopf bis Fuß mit Vaseline eingeschmiert.”

Bill konnte spüren, wie sich die Anspannung im Raum verstärkte.

“Vaseline?” fragte er.

Flores nickte.

“Warum?” fragte Spelbren.

Flores zuckte mit den Achseln.

“Das herauszufinden ist Ihr Job,” erwiderte er.

Bill dachte an die beiden Touristen, die er am Tag zuvor befragt hatte. Sie waren ihm keine Hilfe gewesen, hin und her gerissen zwischen einer morbiden Neugier und Panik darГјber, was sie gesehen hatten. Sie konnten es nicht erwarten zurГјck nach Arlington zu kommen und es hatte keinen Grund gegeben sie festzuhalten. Sie waren von verschiedenen Polizeibeamten befragt und anschlieГџend mehrmals darauf hingewiesen worden, nichts Гјber das Gesehene verlauten zu lassen.

Meredith atmete aus und legte beide Handflächen auf den Tisch.

“Gute Arbeit, Flores,” sagte Meredith.

Flores sah ihn bei dem Lob dankbar an – und vielleicht ein wenig überrascht. Brent Meredith war nicht dafür bekannt Komplimente zu geben.

“Nun, Agent Jeffreys,” wandte Meredith sich an ihn, “informieren Sie uns darüber, wie das alles mit Ihrem alten Fall in Verbindung steht.”

Bill atmete tief durch und lehnte sich in seinem Stuhl zurГјck.

“Vor etwa sechs Monaten,” fing er an, “am sechzehnten Dezember, um genau zu sein, wurde die Leiche von Eileen Rogers auf einer Farm in der Nähe von Daggett gefunden. Ich wurde zu den Ermittlungen gerufen, zusammen mit meiner Partnerin, Riley Paige. Das Wetter war extrem kalt und der Körper war steif gefroren. Es war schwer zu sagen, wie lange sie schon dort war und der genaue Todeszeitpunkt wurde nie festgestellt. Flores, zeigen Sie es ihnen.”

Flores drehte sich wieder zu der Präsentation. Der Bildschirm teilte sich und eine neue Serie von Fotos tauchte auf. Die beiden Opfer wurden Seite an Seite dargestellt. Bill sog scharf die Luft ein. Es war unglaublich. Abgesehen von dem gefrorenen Fleisch des einen Körpers, waren die beiden Leichen in fast der exakt gleichen Verfassung, die Wunden geradezu identisch. Beiden Frauen waren die Augenlider in der gleichen, hässlichen Art und Weise, festgenäht worden.

Bill seufzte, die Bilder brachten alles zurГјck. Egal wie lange er schon dabei war, es schmerzte ihn jedes Mal ein Opfer zu sehen.

“Rogers’ Leiche wurde aufrecht sitzend gegen einen Baum gelehnt gefunden,” fuhr Bill mit düsterer Stimme fort. “Nicht ganz so sorgfältig positioniert wie die im Mosby Park. Keine Kontaktlinsen oder Vaseline, aber die meisten der anderen Details stimmen überein. Rogers’ Haare waren abgeschnitten, nicht rasiert, aber es gab eine ähnliche, zusammengenähte Perücke. Sie wurde ebenfalls mit einer pinken Schleife erdrosselt und eine künstliche Rose lag vor ihr.”

Bill hielt einen Moment inne. Er hasste, was er als nächstes sagen musste.

“Paige und ich konnten den Fall nicht lösen.”

Spelbren drehte sich zu ihm.

“Was war das Problem?” fragte er.

“Was war nicht das Problem?” gab Bill mit einem unnötig abwehrenden Ton zurück. “Wir konnten keinen einzigen richtigen Hinweis finden. Wir hatten keine Zeugen; die Familie des Opfers konnte uns keine hilfreichen Informationen geben; Rogers hatte keine Feinde, keinen Exmann, keinen wütenden Liebhaber. Es gab nicht einen guten Grund, warum sie gekidnappt und getötet wurde. Der Fall ist sofort im Sand verlaufen.”

Bill wurde still. DГјstere Gedanken fluteten seinen Kopf.

“Tun Sie das nicht,” sagte Meredith in einem ungewohnt sanften Ton. “Es war nicht Ihre Schuld. Sie hätten nichts tun können, um den neuen Mord zu verhindern.”

Bill wusste seine Freundlichkeit zu schätzen, aber er fühlte sich unglaublich schuldig. Warum hatte er den Fall nicht vorher lösen können? Warum hatte Riley es nicht gekonnt? Es gab wenige Momente, in denen er so vollkommen ratlos gewesen war.

In diesem Moment brummte das Handy von Meredith und der Chef nahm den Anruf entgegen.

Das erste was er sagte, war “Scheiße!”

Er wiederholte es einige Male. Dann sagte er, “Sie sind sich sicher, dass sie es ist?” Er hielt inne. “Gab es eine Lösegeldforderung?”

Er stand aus seinem Stuhl auf und verließ den Konferenzraum, wo die anderen drei Männer in verwirrter Stille zurückblieben. Nach ein paar Minuten kam er zurück. Er sah älter aus.

“Meine Herren, wir befinden uns jetzt im Krisenzustand,” verkündete er. “Wir haben gerade eine positive Identifikation des neuen Opfers bekommen. Ihr Name war Reba Frye.”

Bill fühlte sich, als hätte man ihm einen Schlag in den Magen verpasst; er konnte sehen, dass Spelbren ebenso geschockt war. Aber Flores sah weiterhin verwirrt aus.

“Sollte ich wissen, wer das ist?” fragte er.

“Ihr Mädchenname ist Newbrough,” erklärte Meredith. “Die Tochter des Senators Mitch Newbrough – wahrscheinlich Virginias nächster Gouverneur.”

Jetzt verstand auch Flores.

“Ich hatte nicht gehört, dass sie als vermisst galt,” sagte Spelbren.

“Es wurde nicht offiziell bekannt gegeben,” sagte Meredith. “Ihr Vater wurde bereits informiert. Und natürlich denkt er, dass es politisch ist oder persönlich – oder beides. Selbst wenn genau das gleiche einem anderen Opfer vor sechs Monaten widerfahren ist.”

Meredith schГјttelte den Kopf.

“Der Senator wird uns Druck machen,” fügte er hinzu. “Eine Presse Lawine ist kurz davor uns zu treffen. Dafür wird er sorgen, um uns Feuer unter dem Hintern zu machen.”

Bill hasste es sich zu fühlen, als wäre er mit einer Situation überfordert. Aber das war genau das, was jetzt in ihm vorging.

Eine ernste Stille legte sich Гјber den Raum.

Schließlich räusperte sich Bill.

“Wir werden Hilfe brauchen,” sagte er.

Meredith drehte sich zu ihm und Bill traf seinen harten Blick. Plötzlich zeigten sich Sorge und Missbilligung auf seinem Gesicht. Er wusste offensichtlich, was Bill dachte.

“Sie ist noch nicht so weit,” antwortete Meredith, dem bewusst war, dass Bill sie zurückbringen wollte.

Bill seufzte.

“Sie kennt den Fall besser als jeder sonst,” erwiderte er, “und es gibt niemanden, der klüger wäre.”

Nach einer Pause gab Bill sich einen Ruck und sagte, was er wirklich dachte.

“Ich denke nicht, dass ich es ohne sie schaffe.”

Meredith tippte ein paar Mal mit seinem Bleistift auf das Notizpapier vor ihm. Es war ihm anzusehen, dass er diese Entscheidung lieber nicht treffen wГјrde.

“Das ist ein Fehler,” sagte er. “Aber wenn sie zusammenbricht, dann ist es Ihr Fehler.” Er seufzte noch einmal. “Rufen Sie sie an.”




Kapitel 3


Die Teenagerin die ihm die TГјr Г¶ffnete, sah aus, als wГјrde sie Bill sie gleich wieder vor der Nase zuschlagen. Stattdessen wirbelte sie herum, lieГџ die TГјre offen stehen und ging zurГјck ins Haus.

Bill trat in den Flur.

“Hi, April,” sagte er automatisch.

Rileys Tochter, eine mürrische, schlaksige Vierzehnjährige, mit dem dunklen Haar und den nussbraunen Augen ihrer Mutter, gab keine Antwort. Nur mit einem übergroßen T-Shirt bekleidet, ihre Haare durcheinander, ging April um die Ecke und ließ sich auf die Couch fallen. Sie schien außer ihrem Handy und den Kopfhörern in ihren Ohren nichts wahrzunehmen.

Bill stand unbehaglich in der Tür, unsicher was er tun sollte. Riley hatte ihm erlaubt sie zu besuchen nachdem er sie angerufen hatte, wenn auch nur zögerlich. Hatte sie ihre Meinung geändert?

Bill sah sich um, während er weiter durch das düstere Haus ging. Er kam ins Wohnzimmer und sah, dass alles ordentlich und aufgeräumt war – typisch für Riley. Er bemerkte allerdings auch die zugezogenen Gardinen und die dünne Staubschicht auf den Möbeln und das sah ihr gar nicht ähnlich. Auf einem Bücherregal sah er eine Reihe glänzender, neuer Thriller Taschenbücher, die er ihr in der Hoffnung gekauft hatte, dass sie dadurch abgelenkt werden würde. Nicht einer der Buchrücken sah geknickt aus.

Bills Besorgnis vertiefte sich. Das war nicht die Riley, die er kannte. Hatte Meredith recht? Brauchte sie mehr Zeit? Machte er das Falsche, indem er sie in einen neuen Fall zog bevor sie bereit war?

Bill straffte die Schultern und ging weiter, bis er um eine Ecke bog und Riley alleine in der Küche sitzend fand. Sie saß am Küchentisch in ihrem Morgenmantel und Hausschuhen, mit einer Tasse Kaffee vor ihr. Sie sah auf und er bemerkte einen Ausdruck von Verlegenheit, als hätte sie vergessen, dass er kommen wollte. Aber sie erholte sie schnell und überspielte die Verlgenheit mit einem schwachen Lächeln als sie aufstand.

Er trat auf sie zu und gab ihr eine Umarmung, die sie erwiderte, wenn auch nur schwach. In ihren Hausschuhen war sie etwas kleiner als er. Sie war sehr dГјnn geworden, zu dГјnn, und seine Besorgnis nahm weiter zu.

Er setze sich ihr gegenüber an den Tisch und sah sie aufmerksam an. Ihre Haare waren sauber, aber nicht gekämmt und es sah aus, als hätte sie seit Tagen nur diese Hausschuhe getragen. Ihr Gesicht sah eingefallen aus, zu bleich, und viel, viel älter als das letzte Mal, als er sie vor fünf Wochen gesehen hatte. Sie sah aus, als wäre sie durch die Hölle gegangen. Das war sie auch. Er versuchte nicht darüber nachzudenken, was der letzte Mörder ihr angetan hatte.

Sie wich seinem Blick aus und beide saßen in einem unangenehmen Schweigen zusammen. Bill war sich so sicher gewesen, dass er genau wusste, was er sagen würde, um sie aufzumuntern, sie wachzurütteln. Stattdessen saß er am Tisch, fühlte sich überwältigt von ihrer Traurigkeit und war sprachlos. Er wollte sie robuster sehen, ihr altes Selbst.

Er versteckte schnell den Umschlag mit den Unterlagen über den neuen Mordfall auf dem Boden neben seinem Stuhl. Er war sich nicht mehr sicher, ob er sie ihr zeigen sollte. Langsam beschlich ihn das Gefühl, dass es ein Fehler gewesen war zu kommen. Es war offensichtlich, dass sie mehr Zeit brauchte. Tatsächlich hatte er das erste Mal das Gefühl, dass sein Partner möglicherweise nicht mehr zurückkommen würde.

“Kaffee?” fragte sie. Er konnte ihr Unbehagen spüren.

Er schüttelte den Kopf. Sie schien zerbrechlich. Als er sie im Krankenhaus besucht hatte und auch nachdem sie nach Hause gekommen war, hatte er Angst um sie gehabt. Er hatte sich gefragt, ob sie jemals ihren Weg zurückfinden würde aus den Untiefen der Dunkelheit, die durch all den Schmerz und Horror entstanden war, den sie hatte erdulden müssen. Sie war in jedem anderen Fall so unerschütterlich gewesen. Etwas an diesem letzten Fall, diesem letzten Mörder, war anders. Bill konnte es verstehen: der Mann war der gestörteste Psychopath, dem er jemals begegnet war – und das sollte schon etwas heißen.

Während er sie betrachtete fiel ihm etwas anderes auf. Sie sah ihrem Alter entsprechend aus. Sie war vierzig Jahre alt, genauso wie er, aber wenn sie arbeitete, lebhaft und engagiert, hatte sie immer viel jünger gewirkt. Graue Haare fingen an in ihrem dunklen Haar sichtbar zu werden. Nun ja, bei seinem Haar war es nicht anders.

Riley rief ihre Tochter, “April!”

Keine Antwort. Riley rief mehrmals ihren Namen, jedes Mal lauter, bis sie schlieГџlich antwortete.

“Was?” rief April gereizt aus dem Wohnzimmer zurück.

“Wann geht dein Unterricht heute los?”

“Das weißt du.”

“Sag’s mir einfach, okay?”

“Halb Neun.”

Riley runzelte die Stirn und schien sich Гјber sich selbst zu Г¤rgern. Sie blickte zu Bill.

“Sie ist in Englisch durchgefallen. Zu oft geschwänzt. Ich versuche ihr zu helfen sich da wieder herauszuarbeiten.”

Bill schГјttelte mitfГјhlend den Kopf; er verstand nur zu gut. Die Agentur nahm einen groГџen Teil des Lebens ein und die Familien litten am meisten darunter.

“Es tut mir leid,” sagte er.

Riley zuckte mit den Achseln.

“Sie ist vierzehn. Sie hasst mich.”

“Das ist nicht gut.”

“Ich habe jeden gehasst, als ich vierzehn war,” erwiderte sie. “Du nicht?”

Bill antwortete nicht. Es war schwer sich vorzustellen, dass Riley jemals jemanden hasste.

“Warte bis deine Jungs in dem Alter sind,” sagte Riley. “Wie alt sind sie jetzt? Ich habe es vergessen.”

“Acht und Zehn,” sagte Bill lächelnd und runzelte dann die Stirn. “So wie die Dinge gerade mit Maggie laufen, weiß ich allerdings nicht, ob ich überhaupt noch in ihrem Leben sein werde, wenn sie in Aprils Alter sind.”

Riley legte den Kopf auf die Seite und sah ihn besorgt an. Er hatte diesen warmen Blick vermisst.

“So schlimm, was?” sagte sie.

Er sah weg und wollte nicht weiter darГјber nachdenken.

Sie saГџen fГјr einen Moment schweigend zusammen.

“Was versteckst du da auf dem Boden?” fragte sie.

Bill blickte nach unten und lächelte; selbst in ihrem momentanen Zustand entging ihr nichts.

“Ich verstecke nichts,” sagte Bill, nahm den Umschlag und legte ihn auf den Tisch. “Nur etwas, über das ich gerne mit dir reden würde.”

Riley lächelte breit. Es war offensichtlich, dass sie genau wusste, warum er wirklich gekommen war.

“Zeig es mir,” sagte sie, fügte dann aber nach einem nervösen Seitenblick auf April hinzu, “komm, lass uns nach draußen gehen. Ich will nicht, dass sie etwas davon sieht.”

Riley zog ihre Hausschuhe aus und ging barfuß in den Garten. Sie setzten sich an den verwitterten Holztisch, der schon dort gestanden hatte, als Riley eingezogen war, und Bill sah sich in dem kleinen Garten ohne einen einzigen Baum um. Er war umgeben von Wäldern und ließ Bill ganz vergessen, dass er auch nur in der Nähe einer Stadt war.

Zu isoliert, dachte er.

Er hatte nie das Gefühl gehabt, das dieser Ort das Richtige für Riley war. Das kleine Haus im Farmhaus Stil lag etwa fünfundzwanzig Kilometer außerhalb der Stadt, war heruntergekommen und sehr gewöhnlich. Es stand neben einer kleinen Straße, mit nichts außer Wald und Feldern in Sicht. Nicht, dass er dachte Leben in der Stadt wäre besser für sie. Er konnte sich Riley nicht auf Cocktail Partys vorstellen. Sie konnte von hier aus zumindest nach Fredericksburg fahren und den Amtrak nach Quantico nehmen, wenn sie zurück ins Büro kam. Falls sie zurückkam.

“Zeig mir, was du hast,” sagte sie.

Er breitete die Berichte und Fotos auf dem Tisch aus.

“Erinnerst du dich an den Daggett Fall?” fragte er. “Du hattest recht. Der Mörder war noch nicht fertig.”

Er sah, wie sich ihre Augen weiteten, als sie die Fotos betrachtete. Eine lange Stille senkte sich über sie, während sie aufmerksam die Unterlagen studierte, und er fragte sich, ob es genau das war, was es brauchte, um sie zurückzubringen – oder ob es sie zurückwerfen würde.

“Also, was denkst du?” fragte er schließlich.

Wieder Stille. Sie hatte immer noch nicht von den Unterlagen aufgesehen.

Schließlich blickte sie auf und als sie das tat, war er erschrocken Tränen in ihren Augen zu sehen. Er hatte sie noch nie weinen gesehen, nicht einmal bei ihren schlimmsten Fällen oder direkt neben einer Leiche. Das war definitiv nicht die Riley, die er kannte. Der Mörder hatte ihr etwas angetan; mehr als er wusste.

Sie unterdrГјckte ein Schluchzen.

“Ich habe Angst, Bill,” sagte sie. “Ich habe solche Angst. Immerzu. Vor allem.”

Bill schmerzte es sie so zu sehen. Er fragte sich, ob die alte Riley verschwunden war, die eine Person, auf die er sich immer verlassen konnte, die stärker war als er, der Fels auf den er bauen konnte. Er vermisste sie mehr, als er sagen konnte.

“Er ist tot, Riley,” sagte er, mit dem überzeugendsten Ton, den er fertig brachte. “Er kann dir nicht mehr weh tun.”

Sie schГјttelte den Kopf.

“Das kannst du nicht wissen.”

“Natürlich weiß ich das,” erwiderte er. “Sie haben seine Leiche nach der Explosion gefunden.”

“Sie konnten ihn nicht identifizieren,” sagte sie.

“Du weißt, dass er es war.”

Sie vergrub ihr Gesicht in einer Hand als sie weinte. Er hielt die andere auf dem Tisch.

“Das ist ein neuer Fall,” sagte er. “Er hat nichts mit dem zu tun, was dir passiert ist.”

Sie schГјttelte den Kopf.

“Das ist egal.”

Während sie weinte, steckte sie alle Unterlagen zurück in den Umschlag und hielt ihn Bill hin. “Es tut mir leid,” sagte sie und blickte zur Seite. “Ich denke du solltest gehen.”

Bill, entsetzt und traurig, nahm den Umschlag aus ihren zitternden Händen. Niemals, nicht in einer Million Jahren, hätte er das erwartet.

Bill musste für einen Moment gegen seine eigenen Tränen ankämpfen. Schließlich tätschelte er ihr sanft die Hand, stand auf und ging zurück durchs Haus. April saß immer noch im Wohnzimmer, ihre Augen geschlossen, und nickte im Takt ihrer Musik.


*

Riley saГџ weinend am Tisch nachdem Bill gegangen war.

Ich dachte ich bin okay, dachte sie.

Sie hatte für Bill okay sein wollen. Und sie hatte gedacht, dass sie es wirklich schaffen würde. In der Küche zu sitzen und über Nichtigkeiten zu reden war auch in Ordnung gewesen. Sogar besser als in Ordnung. Sie hatte sich mitreißen lassen. Ihre alte Lust für ihre Arbeit war aufgeflammt und sie hatte sich wieder mit einem Fall beschäftigen wollen. Sie wusste, dass sie versuchte zu rationalisieren, indem sie diese fast identischen Morde wie ein zu lösendes Puzzle betrachtete, fast als wäre es ein abstraktes, intellektuelles Rätsel. Das war auch okay. Ihr Therapeut hatte ihr gesagt, dass sie das würde tun müssen, wenn sie jemals zurück zur Arbeit gehen wollte.

Aber dann, aus irgendeinem Grund, wurde aus dem intellektuellen Puzzle das, was es wirklich war – eine entsetzliche, menschliche Tragödie, in der zwei unschuldige Frauen unter unvorstellbaren Qualen gestorben waren. Und sie fragte sich plötzlich: War es für sie genauso schlimm wie für mich?

Ihr Körper wurde mit Panik und Angst geflutet. Und Verlegenheit und Scham. Bill war ihr Partner und ihr bester Freund. Sie schuldete ihm so viel. Er hatte ihr in den letzten Wochen beigestanden, als sonst niemand da war. Sie hätte ohne ihn die Zeit im Krankenhaus nicht überlebt. Das Letzte was sie wollte, war, dass er sie in diesem Zustand der Hilflosigkeit sah.

Sie hörte April von der Hintertür aus rufen.

“Mom, wir müssen jetzt essen, sonst kommen wir zu spät.”

Sie hatte das dringende Bedürfnis zurückzurufen, “Mach dir dein eigenes Frühstück!”

Aber sie tat es nicht. Sie war von den vielen Kämpfen mit April erschöpft. Sie hatte es aufgegeben.

Sie stand auf und ging zurück in die Küche. Sie riss ein Küchentuch von der Rolle und nutze es um ihre Tränen wegzuwischen und sich die Nase zu putzen. Sie bereitet sich mental darauf vor zu kochen. Sie versuchte sich an die Worte ihres Therapeuten zu erinnern: Selbst Routineaufgaben werden viel Kraft verlangen, zumindest für den Anfang. Sie hatte sich vorgenommen einen Schritt nach dem anderen zu machen.

Zuerst kamen die Dinge aus dem Kühlschrank – der Karton mit den Eiern, die Packung Schinken, die Butterdose und das Marmeladenglas, weil April im Gegensatz zu ihr Marmelade mochte. Und so ging es weiter, bis sie fünf Schinkenstreifen in die Pfanne auf dem Herd legte und die Gasflamme entzündete.

Sie stolperte beim Anblick der gelb-blauen Flamme zurГјck. Sie schloss die Augen und alles kam auf einen Schlag zu ihr zurГјck.



Riley lag in dem engen Zwischenraum unter dem Haus; in einem kleinen, selbstgebauten Käfig. Die Propangasflamme war das einzige Licht, das sie sah. Den Rest der Zeit verbrachte sie in absoluter Dunkelheit. Der Boden bestand aus Erde. Die Dielen über ihr waren so tief, dass sie sich kaum hinhocken konnte.

Die Dunkelheit wurde nicht einmal dann durchbrochen, wenn er die kleine Tür öffnete und zu ihr in den Zwischenraum kroch. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie hörte ihn atmen und grunzen. Er würde ihren Käfig öffnen und hineinklettern.

Dann würde er die Fackel entzünden. Sie konnte sein grausames und hässliches Gesicht in ihrem Licht sehen. Er quälte sie mit einem Teller erbärmlichen Essens. Wenn sie danach griff, stieß er ihr die Flamme entgegen. Sie konnte nicht essen ohne verbrannt zu werden…



Sie öffnete die Augen. Die Bilder waren mit offenen Augen weniger lebendig, aber sie konnte den anhaltenden Strom von Erinnerungen nicht verdrängen. Sie fuhr mechanisch fort das Frühstück zuzubereiten, ihr ganzer Körper zitternd vor Adrenalin. Sie war gerade dabei den Tisch zu decken, als sie wieder die Stimme ihrer Tochter rufen hörte.

“Mom, wie lange dauert es noch?”

Sie zuckte zusammen und der Teller glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden, wo er zersplitterte.

“Was ist passiert?” rief April, die neben ihr erschien.

“Nichts,” sagte Riley.

Sie räumte die Scherben weg und als sie und April zum Essen zusammensaßen, war die stille Feindseligkeit wie immer spürbar. Riley wollte den Kreis durchbrechen, zu April durchstoßen, ihr sagen, April, ich bin es, deine Mutter und ich liebe dich. Aber sie hatte es viele Male probiert und es dadurch nur schlimmer gemacht. Ihre Tochter hasste sie und sie konnte nicht verstehen warum – oder wie sie es ändern konnte.

“Was machst du heute?” fragte sie April.

“Was denkst du denn?” schnappte April. “Ich gehe zum Unterricht.”

“Ich meinte danach,” sagte Riley mit ruhiger, mitfühlender Stimme. “Ich bin deine Mutter. Ich will es einfach wissen. Das ist normal.”

“Nichts an unseren Leben ist normal.”

Sie aГџen schweigend weiter.

“Du erzählst mir nie etwas,” sagte Riley.

“Du auch nicht.”

Das stoppte jede Hoffnung auf eine normale Unterhaltung.

Das ist fair, dachte Riley bitter. Es stimmte mehr, als April wusste. Riley hatte ihr nie über ihre Arbeit erzählt, ihre Fälle; sie hatte ihr nie über ihre Gefangenschaft erzählt, ihre Zeit im Krankenhaus oder warum sie jetzt “Urlaub” hatte. Alles was April wusste, war, dass sie die meiste Zeit mit ihrem Vater leben musste und den hasste sie noch mehr als Riley. Aber so sehr sie ihr auch mehr erzählen wollte, Riley dachte, es wäre das Beste wenn April keine Ahnung davon hatte, was ihre Mutter durchgemacht hatte.

Riley zog sich an und fuhr April zur Schule. Sie sprachen kein Wort während der Fahrt. Als sie April aussteigen ließ rief sie ihr nach, “Ich sehe dich dann um Zehn.”

April winkte ihr achtlos zu, während sie sich entfernte.

Riley fuhr zum nächstgelegenen Café. Es war Routine für sie geworden. Es war schwer für sie Zeit an einem öffentlichen Ort zu verbringen und sie wusste, dass das genau der Grund war, warum sie es tun musste. Das Café war klein und nie überfüllt, sogar an einem Morgen wie diesem, daher empfand sie es als nicht sehr bedrohlich.

Als sie dort saГџ und an ihrem Cappuccino nippte, erinnerte sie sich an Bills Bitte. Es war sechs Wochen her, verdammt nochmal. Das musste sich Г¤ndern. Sie musste sich Г¤ndern. Sie wusste nur nicht, wie sie das tun sollte.

Aber eine Idee fing an sich in ihrem Kopf zu formen. Sie wusste auch schon genau, was sie zuerst tun musste.




Kapitel 4


Die weiГџe Flamme der Propangasfackel bewegte sich vor Riley. Sie musste sich hin und her ducken um Verbrennungen zu entgehen. Die Helle blendete sie fГјr alles andere und sie konnte nicht einmal mehr das Gesicht ihres Kidnappers sehen. Als die Flamme sich bewegte, schien es, als wГјrde sie brennende Spuren in der Luft hinterlassen.

“Hör auf!” schrie sie. “Hör auf!”

Ihre Stimme wurde rau und kratzig vom Schreien. Sie fragte sich, warum sie ihren Atem verschwendete. Sie wusste, dass er nicht aufhören würde sie zu foltern bis sie tot war.

In dem Moment griff er nach einer Gashupe und betätigte sie direkt neben ihrem Ohr.



Eine Autohupe ertönte. Riley wurde abrupt zurück in die Gegenwart gebracht und sah, dass die Ampel an der Kreuzung Grün geworden war. Eine Reihe von Autos wartete hinter ihr, also drückte sie aufs Gas.

Riley, mit schwitzenden Händen, zwang sich dazu die Erinnerung zu verdrängen und sich bewusst zu machen, wo sie war. Sie war auf dem Weg um Marie Sayles zu besuchen, der einzigen anderen Überlebenden des unaussprechlichen Sadismus ihres Beinahe-Mörders. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie sich von den Flashbacks hatte überwältigen lassen. Es war ihr gelungen sich für anderthalb Stunden zu konzentrieren und sie hatte gedacht, es ginge ihr gut.

Riley erreichte Georgetown, fuhr vorbei an eleganten viktorianischen Häusern und parkte vor der Adresse, die Marie ihr über das Telefon gegeben hatte – einem rotem Backsteinhaus mit hübschen Erkerfenstern. Sie saß für einen Augenblick im Wagen und versuchte den Mut aufzubringen um zu klingeln.

Schließlich stieg sie aus. Als sie die Stufen zum Eingang erklomm, war sie froh Marie an der Türe auf sie warten zu sehen. Einfach aber elegant gekleidet lächelte Marie ihr matt zu. Sie sah erschöpft und angespannt aus. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren für Riley ein sicheres Zeichen, dass sie geweint hatte. Das war keine Überraschung. Sie und Marie hatten sich in den letzten Wochen oft über Video Chats gesehen und es gab wenig, was sie voreinander verstecken konnten.

Als sie sich umarmten, bemerkte Riley gleich, dass Marie kleiner und auch weniger robust war, als sie erwartet hatte. Sogar in hochhackigen Schuhen war Marie kleiner als Riley, ihre Statur schmal und zerbrechlich. Das überraschte Riley. Sie und Marie hatten sich lange unterhalten, aber das war das erste Mal, dass sie sich persönlich begegneten. Maries Zierlichkeit ließ sie nur noch mutiger erscheinen; in Anbetracht dessen, was sie durchgemacht hatte.

Riley nahm ihre Umgebung auf während sie und Marie in das Esszimmer gingen. Das Haus war makellos rein und geschmackvoll eingerichtet. Es wäre normalerweise ein fröhliches Zuhause für eine erfolgreiche, alleinstehende Frau. Aber Marie hatte alle Vorhänge zugezogen und die Lichter gedämmt. Die Atmosphäre war merkwürdig bedrückend. Riley wollte es nicht zugeben, aber es erinnerte sie an ihr eigenes Haus.

Marie hatte ein leichtes Mittagessen auf dem Esszimmertisch bereitgestellt und sie setzten sich gemeinsam zum Essen. Sie saГџen in unangenehmer Stille und Riley schwitze, ohne sicher zu sein warum. Marie zu sehen brachte alles zurГјck.

“Also …wie hat es sich angefühlt?” fragte Marie zögerlich. “Raus in die Welt zu fahren?”

Riley lächelte. Marie wusste besser als jeder andere, wie schwer ihr diese Fahrt gefallen war.

“Ganz gut,” sagte Riley. “Um ehrlich zu sein, ziemlich gut. Ich hatte nur einen schlechten Moment.”

Marie nickte verständnisvoll.

“Nun, du hast es geschafft,” sagte Marie. “Und du warst mutig.”

Mutig, dachte Riley. Das war nicht, wie sie sich selbst beschrieben hätte. Früher einmal vielleicht, als sie noch ein aktiver Agent war. Würde sie sich jemals wieder so sehen?

“Was ist mit dir?” fragte Riley. “Wie oft gehst du raus?”

Marie schwieg.

“Du gehst gar nicht vor die Tür, oder?” fragte Riley.

Marie schГјttelte den Kopf.

Riley griff nach ihrer Hand und drГјckte sie mitfГјhlend.

“Marie, du musst es versuchen,” drängte sie. “Wenn du dich hier einschließt, dann ist es, als würde er dich immer noch gefangen halten.”

Ein Schluchzer entrang sich Maries Kehle.

“Es tut mir leid,” sagte Riley.

“Das ist okay. Du hast recht.”

Riley beobachtete Marie, während sie schweigend aßen und sich eine lange Stille über sie breitete. Sie wollte glauben, dass es Marie gut ging, aber sie musste zugeben, dass sie einen alarmierend zerbrechlichen Eindruck machte. Es brachte sie dazu sich um sich selbst Gedanken zu machen. Sah sie genauso schlimm aus?

Riley fragte sich im Stillen, ob es gut für Marie war, dass sie alleine lebte. Wäre es besser für sie, wenn sie einen Mann oder einen Freund hätte? Dann stellte sie sich selbst die gleiche Frage. Sie wusste, dass die Antwort für beide wahrscheinlich nicht war. Keiner der beiden war in der emotionalen Verfassung eine Beziehung zu führen. Es wäre nur eine weitere Hürde.

“Habe ich dir je gedankt?” fragte Marie nach einer Weile und brach die Stille.

Riley lächelte. Sie wusste, dass Marie ihre Rettung meinte.

“Sehr oft,” sagte Riley. “Und das brauchst du nicht. Wirklich.”

Marie stocherte mit der Gabel in ihrem Essen.

“Habe ich jemals gesagt, dass es mir leid tut?”

Riley sah sie überrascht an. “Es tut dir leid? Was?”

Es fiel Marie sichtlich schwer weiterzusprechen.

“Wenn du mich nicht da rausgeholt hättest, dann wärst du nicht gefangen worden.”

Riley drГјckte Maries Hand.

“Marie, ich habe nur meinen Job gemacht. Du kannst dich nicht wegen etwas schuldig fühlen, für das du nichts kannst. Du hast so schon genug, mit dem du fertig werden musst.”

Marie nickte.

“Alleine jeden Tag aufzustehen ist schon eine Herausforderung,” gab sie zu. “Ich nehme an du hast bemerkt, wie dunkel ich es hier habe. Jedes helle Licht erinnert mich an seine Fackel. Ich kann nicht einmal fernsehen oder Musik hören. Ich habe Angst, dass sich jemand an mich heranschleichen könnte und ich es nicht höre. Jedes Geräusch versetzt mich in Panik.”

Sie fing leise an zu weinen.

“Ich werde die Welt nie wieder mit den gleichen Augen sehen. Niemals. Dort draußen ist das Böse, überall um uns herum. Ich hatte keine Ahnung. Menschen sind zu so schrecklichen Dingen fähig. Ich weiß nicht, wie ich jemals wieder jemandem vertrauen soll.”

Marie weinte und Riley wollte ihr versichern, dass sie nicht recht hatte. Aber ein Teil von Riley war sich nicht so sicher, dass sie falsch lag.

SchlieГџlich sah Marie sie an.

“Warum bist du heute hergekommen?” fragte sie geradeheraus.

Riley war durch Maries Direktheit überrumpelt – und durch die Tatsache, dass sie sich selber nicht ganz sicher war.

“Ich weiß es nicht,” sagte sie. “Ich wollte dich nur besuchen. Sehen wie es dir geht.”

“Da ist noch etwas anderes,” sagte Marie und verengte die Augen mit erstaunlichem Gespür.

Vielleicht hatte sie recht, dachte Riley. Sie dachte an Bills Besuch und realisierte, dass sie tatsächlich wegen dem neuen Fall hergekommen war. Was wollte sie von Marie? Rat? Erlaubnis? Ermutigung? Bestätigung? Ein Teil von ihr wollte, dass Marie ihr sagte sie wäre verrückt, dass sie sich ausruhen und Bill vergessen sollte. Aber vielleicht wollte ein anderer Teil, dass Marie sie drängte den Fall anzunehmen.

SchlieГџlich seufzte Riley.

“Da ist ein neuer Fall,” sagte sie. “Nun ja, kein neuer Fall. Aber ein alter Fall, der noch nicht gelöst wurde.”

Maries Ausdruck wurde ernst und angespannt.

Riley schluckte.

“Und du bist gekommen, um mich zu fragen, ob du es tun sollst?” fragte Marie.

Riley zuckte mit den Schultern. Aber sie sah auf und suchte in Maries Augen nach einer Bestätigung, nach Ermutigung. Und in diesem Moment verstand sie, was genau sie sich von diesem Besuch erhofft hatte.

Aber zu ihrer Enttäuschung sah Marie weg und schüttelte langsam den Kopf. Riley wartete auf eine Antwort, aber stattdessen folgte eine endlose Stille. Riley spürte, dass eine ganz besondere Art von Angst sich in Maries Kopf ausbreitete.

In der Stille sah Riley sich in der Wohnung um und ihre Augen vielen auf Maries Festnetztelefon. Sie war überrascht es ausgestöpselt zu finden.

“Was stimmt nicht mit deinem Telefon?” fragte Riley.

Marie sah sie entsetzt an und Riley verstand, dass sie einen Nerv getroffen hatte.

“Er ruft mich ständig an,” sagte Marie mit einem fast unhörbaren Flüstern.

“Wer?”

“Peterson.”

Riley Herz schlug ihr bis zum Hals.

“Peterson ist tot,” erwiderte sie mit wackeliger Stimme. “Ich habe das Haus niedergebrannt. Sie haben seine Leiche gefunden.”

Marie schГјttelte den Kopf.

“Das hätte jeder sein können. Das war nicht er.”

Riley fühlte Panik in sich aufsteigen. Ihre eigenen schlimmsten Albträume wurden zurückgebracht.

“Jeder sagt, dass er es war,” erwiderte Riley.

“Und das glaubst du wirklich?”

Riley wusste nicht, was sie sagen sollte. Jetzt war nicht der passende Zeitpunkt um ihr die eigenen Ängste anzuvertrauen. Schließlich halluzinierte Marie vermutlich. Aber wie konnte Riley sie von etwas überzeugen, das sie selbst nicht vollständig glauben konnte?

“Er ruft hier an,” sagte Marie wieder. “Er ruft an und atmet und legt wieder auf. Ich weiß, dass er es ist. Er lebt. Er verfolgt mich immer noch.”

Riley spГјrte kalte, schleichende Angst.

“Das ist wahrscheinlich nur ein obszöner Anrufer,” sagte sie und gab vor ruhig zu sein. “Aber ich kann das Büro bitten es trotzdem zu überprüfen. Ich kann auch einen Streifenwagen vor deinem Haus postieren, wenn du Angst hast. Sie können die Anrufe zurückverfolgen.”

“Nein!” rief Marie scharf. “Nein!”

Riley sah sie verwirrt an.

“Warum nicht?” fragte sie.

“Ich will ihn nicht wütend machen,” sagte Marie mit einem mitleiderregenden Wimmern.

Riley, überfordert und mit dem Gefühl kurz vor einer Panikattacke zu stehen, wurde klar, dass es eine schlechte Idee gewesen war Marie zu besuchen. Sie fühlte sich nicht besser sondern schlechter. Sie wusste, dass sie keinen Moment länger in diesem bedrückenden Raum sitzen konnte.

“Ich muss gehen,” sagte Riley. “Es tut mir so leid. Meine Tochter wartet.”

Marie griff plötzlich mit überraschender Kraft nach Rileys Handgelenk, sodass sich ihre Nägel in die Haut gruben. Sie starrte Riley mit einer solchen Intensität aus ihren eisblauen Augen an, dass es ihr Angst machte. Dieser furchteinflößende Blick brannte sich in ihre Seele.

“Nimm den Fall an,” drängte Marie.

Riley konnte in ihren Augen sehen, dass Marie den neuen Fall und Peterson verwechselte, sie ineinander Гјberlaufen lieГџ.

“Finde diesen Hurensohn,” sagte Marie. “Und tote ihn für mich.”




Kapitel 5


Der Mann folgte der Frau auf kurzer Distanz aber war diskret und sah nur flüchtig zu ihr herüber. Er legte einige Artikel in seinen Einkaufskorb, damit er wie jeder andere Kunde aussah. Er gratulierte sich selbst dazu wie unauffällig er sich machen konnte. Niemand erahnte seine wahre Macht.

Auf der anderen Seite war er nie die Art von Mann gewesen, die viel Aufmerksamkeit erregte. Als Kind hatte er sich praktisch unsichtbar gefГјhlt. Jetzt, endlich, konnte er seine Harmlosigkeit zu seinem Vorteil nutzen.

Nur Momente zuvor hatte er direkt neben ihr gestanden, kaum einen Meter entfernt. Darin vertieft ihr Shampoo auszusuchen, hatte sie ihn nicht bemerkt.

Aber er wusste viel über sie. Er wusste, dass sie Cindy hieß, dass ihr Mann eine Kunstgallerie besaß und dass sie in einer freien Klinik arbeitete. Heute war einer ihrer freien Tage. Jetzt sprach sie mit jemandem am Telefon – ihre Schwester, so wie es sich anhörte. Sie lachte über etwas, das die Person zu ihr sagte. Er kochte vor Wut und fragte sich, ob sie über ihn lachte, wie es all die Mädchen getan hatten. Seine Wut nahm weiter zu.

Cindy trug kurze Hosen, ein Tank Top und teuer aussehende Laufschuhe. Er hatte sie aus seinem Auto beim Joggen beobachtete, bis sie ihren Lauf beendete und in den kleinen Supermarkt kam. Er kannte ihre Routine an einem arbeitsfreien Tag wie diesem. Sie würde die Einkäufe mit nach Hause nehmen, sie wegpacken, duschen und dann ihren Mann zum Mittagessen treffen.

Ihre gute Figur verdankte sie einer Menge Bewegung. Sie war nicht mehr als dreiГџig Jahre alt, aber die Haut um ihre Oberschenkel war nicht mehr fest. Sie hatte wahrscheinlich einmal viel Gewicht verloren, vielleicht erst vor Kurzem. Sie war zweifellos stolz darauf.

Plötzlich begab sich die Frau zur nächsten Kasse. Der Mann wurde davon überrascht. Sie hatte ihren Einkauf früher als üblich beendet. Er beeilte sich um in die Reihe hinter ihr zu kommen und schubste dabei beinahe einen anderen Kunden beiseite. Er machte sich im Stillen Vorwürfe dafür.

Als die Kassiererin die Artikel der Frau über die Kasse zogen, stellte er sich nahe an sie heran – nah genug um ihren Körper zu riechen, jetzt schwitzend und mit stechendem Geruch nach einem anstrengenden Lauf. Es war ein Geruch, mit dem er sich schon bald sehr viel vertrauter machen würde. Aber er würde mit etwas anderem vermischt sein – einem Geruch, der ihn faszinierte.

Den Geruch von Schmerz und Horror.

FГјr einen Moment fГјhlte sich der Mann beschwingt, sogar angenehm benommen, vor gespannter Erwartung.

Nachdem sie ihre Lebensmittel bezahlt hatte, schob sie den Einkaufswagen durch die automatischen GlastГјren auf den Parkplatz.

Er hatte es jetzt nicht eilig seine Handvoll von Artikeln zu bezahlen. Er musste ihr nicht nach Hause folgen. Er war schon dort gewesen – hatte sich sogar in das Haus geschlichen, ihre Kleidung in Händen gehalten. Er würde seine Verfolgung wieder aufnehmen, wenn sie zur Arbeit fuhr.

Nicht mehr lange, dachte er. Ganz und gar nicht lange.


*

Nachdem Cindy MacKinnon in ihren Wagen gestiegen war, saГџ sie fГјr einen Moment unbeweglich hinter dem Steuer. Sie fГјhlte sich zittrig und wusste nicht warum. Sie erinnerte sich an das seltsame GefГјhl, das sie im Supermarkt gehabt hatte. Es war das unheimliche, irrationale GefГјhl beobachtet zu werden. Aber es war mehr als das. Es dauerte eine Weile, bis sie es genau benennen konnte.

SchlieГџlich wurde ihr klar, dass es sich angefГјhlt hatte, als wolle ihr jemand etwas antun.

Sie schüttelte sich. In den letzten Tagen war das Gefühl ständig gekommen und gegangen. Sie tadelte sich selbst, dass sie so schreckhaft war. Es gab sicherlich keinen Grund dafür.

Sie schüttelte noch einmal den Kopf und versuchte auch die letzten Reste des Gefühls loszuwerden. Als sie den Wagen startete zwang sie sich dazu an etwas anderes zu denken und lächelte bei dem Gedanken an ihre Unterhaltung mit ihrer Schwester, Becky. Später an diesem Nachmittag würde Cindy ihr helfen eine große Geburtstagsparty für ihre drei Jahre alte Tochter zu geben; mit Kuchen, Luftballons und allem drum und dran.

Das wird ein wunderschöner Tag werden, dachte sie.




Kapitel 6


Riley saß im Geländewagen neben Bill, als er den Gang wechselte, um den Wagen die Hügel hochzufahren, und sie wischte ihre schweißnassen Hände an ihrer Hose ab. Sie wusste nicht, was sie von diesem Schwitzen halten sollte und sie war sich nicht sicher was sie hier tat. Nach sechs Wochen Abwesenheit schien sie das Gefühl für ihre Instinkte verloren zu haben. Es fühlte sich unwirklich an zurück zu sein.

Riley war durch die befangene Anspannung zwischen ihnen verstört. Sie und Bill hatten kaum gesprochen während der Fahrt. Ihre alte Kameradschaft, ihre Verspieltheit, ihr harmonisches Verhältnis – nichts von all dem war spürbar. Riley war sich relativ sicher, dass sie wusste, warum Bill so distanziert war. Es war nicht Grobheit, sondern Sorge. Er schien die gleichen Zweifel wie sie über ihre Rückkehr zum Job zu haben.

Sie fuhren in Richtung Mosby State Park, wo Bill das neueste Mordopfer gesehen hatte. Während der Fahrt nahm Riley die geographische Beschaffenheit um sich herum auf und langsam schien sich ihre Professionalität wieder einzustellen. Sie wusste, dass sie sich zusammenreißen musste.

Finde den Hurensohn und töte ihn für mich.

Maries Worte verfolgten sie, trieben sie an und machten ihre Entscheidung einfach.

Aber nichts schien wirklich einfach zu sein. Zum einen konnte sie nicht aufhören sich um April Sorgen zu machen. Sie zu ihrem Vater zu schicken war für keinen von ihnen eine ideale Situation. Aber es war Samstag und Riley wollte nicht bis Montag warten um den Tatort zu sehen.

Das anhaltende Schweigen verstärkte ihre Beklemmungen und sie verspürte das dringende Bedürfnis zu reden. Sie zerbrach sich den Kopf um etwas zu finden, das sie sagen konnte.

“Also, wirst du mir erzählen, was zwischen dir und Maggie los ist?”

Bill drehte sich mit einem überraschten Gesichtsausdruck zu ihr. Sie konnte nicht sagen, ob er von ihrer direkten Frage überrascht war oder der Tatsache, dass sie das Schweigen gebrochen hatte? Welcher Grund auch immer es war, sie bereute es sofort. Ihre Direktheit, so sagten viele Leute, konnte abschreckend sein. Sie war nicht absichtlich schroff – sie wollte einfach keine Zeit verschwenden.

Bill seufzte.

“Sie denkt, ich habe eine Affäre.”

Riley sah ihn Гјberrascht an.

“Was?”

“Mit meinem Job,” sagte Bill und lachte bitter. “Sie denkt ich habe eine Affäre mit meinem Job. Sie denkt ich liebe all das hier mehr als sie. Ich sage ihr immer wieder, dass das albern ist, aber ich kann es auch nicht beenden – zumindest nicht meinen Job.”

Riley schГјttelte den Kopf.

“Hört sich an wie Ryan. Er war immer unheimlich eifersüchtig, als wir noch zusammen waren.”

Sie war kurz davor gewesen Bill die ganze Wahrheit zu sagen. Ihr Exmann war nicht auf Rileys Arbeit eifersГјchtig gewesen; sondern auf Bill. Sie hatte sich oft gefragt, ob Ryan vielleicht einen guten Grund gehabt hatte. Trotz der seltsamen Spannung fГјhlte es sich sehr gut an Bill nahe zu sein. War dieses GefГјhl rein professionell?

“Ich hoffe, dass wir die Fahrt nicht umsonst machen,” sagte Bill. “Der Tatort wurde komplett gereinigt.”

“Ich weiß. Ich will den Ort einfach mit eigenen Augen sehen. Fotos und Berichte reichen mir nicht.”

Riley fing an sich leicht benebelt zu fühlen. Sie war sich sicher, dass das mit der Höhe zusammenhing, während sie immer weiter nach oben fuhren. Aber auch Erwartung hatte damit zu tun. Ihre Handflächen waren immer noch mit Schweiß bedeckt.

“Wie weit noch?” fragte sie, während die Landschaft um sie herum abgeschiedener wurde.

“Nicht weit.”

Einige Minuten später bog Bill von der asphaltierten Straße auf einen holprigen Weg ab. Der Wagen rumpelte über die Spurrillen und kam dann kurz danach zum Stehen.

Er schaltete den Motor aus, drehte sich dann zu Riley und sah sie besorgt an.

“Bist du sicher, dass du das tun willst?” fragte er.

Sie wusste, was ihm Sorgen bereitete. Er hatte Angst, dass sie Flashbacks haben würde, auch wenn es sich um einen gänzlich anderen Fall und einen anderen Killer handelte.

Sie nickte.

“Ich bin sicher,” sagte sie, selber nicht ganz überzeugt, dass das die Wahrheit war.

Sie stieg aus dem Wagen und folgte Bill über einen schmalen, überwachsenen Pfad durch den Wald. Sie hörte das gurgelnde Geräusch des nahegelegenen Flusses. Als die Vegetation dichter wurde musste sie sich einen Weg durch tiefhängende Äste bahnen und klebrige, kleine Kletten setzten sich auf ihre Hosenbeine. Sie war genervt bei dem Gedanken sie später wieder absammeln zu müssen.

Schließlich kamen sie und Bill an den kleinen Bach. Riley dachte sofort, was für ein wundervoller Ort dies war. Das Licht der Nachmittagssonne fiel durch die Blätter und sprenkelte den Fluss mit kaleidoskopischem Licht. Das beständige Plätschern des Baches war beruhigend. Es war seltsam an diesen Ort als einen grausigen Tatort zu denken.

“Sie wurde gleich hier gefunden,” sagte Bill und führte sie zu einem großen, flachen Felsen.

Als sie davorstanden betrachtete Riley die Umgebung aufmerksam und atmete tief durch. Ja, es war richtig gewesen herzukommen, das konnte sie fГјhlen.

“Die Fotos?” fragte Riley.

Sie hockte sich neben Bill auf den Felsen und sie fingen an durch die Sammlung von Fotos zu schauen, die kurz nach dem Fund der Leiche gemacht worden waren. Eine weitere Akte war mit Berichten und Fotos von dem anderen Mord gefüllt, in dem Bill und sie vor sechs Monaten ermittelt hatten – den sie nicht hatten lösen können.

Die Fotos erweckten lebhafte Erinnerungen an den ersten Fall. Sie brachten sie zurück an die Farm in der Nähe von Daggett. Sie erinnerte sich daran, wie Rogers auf ähnliche Weise gegen einen Baum positioniert gewesen war.

“Die beiden Fälle sind sich sehr ähnlich,” bemerkte Riley. “Beide Frauen sind Mitte Dreißig, beide mit kleinen Kindern. Das scheint Teil seiner MO zu sein. Er hat es auf Mütter abgesehen. Wir müssen uns Elterngruppen ansehen, herausfinden, ob eine Verbindung zwischen den beiden Frauen oder ihren Kindern besteht.”

“Ich setzte jemanden darauf an,” sagte Bill. Er machte sich Notizen.

Riley blieb weiter Гјber die Berichte und Fotos gebeugt und verglich sie mit der Szenerie, die sich vor ihr erstreckte.

“Die gleiche Todesursache; Strangulierung durch eine pinke Schleife,” kommentierte sie. “Wieder eine Perücke und die gleiche Art von künstlicher Rose vor dem Körper.”

Riley hielt zwei Fotos nebeneinander hoch.

“Die Augenlider sind festgenäht,” sagte sie. “Wenn ich mich richtig erinnere, haben die Labortechniker herausgefunden, dass Rogers’ Augen postmortem genäht wurden. War es bei Frye das gleiche?”

“Ja. Ich nehme an, er wollte, dass sie ihn auch nach ihrem Tod noch sehen.”

Riley spürte ein plötzliches Kribbeln das ihren Rücken hochgekrochen kam. Sie hatte dieses Gefühl fast vergessen. Es tauchte immer dann auf, wenn etwas an einem Fall plötzlich klickte und einen Sinn machte. Sie wusste nicht, ob sie ermutigt oder erschrocken sein sollte.

“Nein,” sagte sie. “Das ist es nicht. Es war ihm egal, ob die Frauen ihn sehen oder nicht.”

“Warum hat er es dann gemacht?”

Riley antwortete nicht sofort. Ideen fluteten ihr Gehirn. Sie war aufgeregt, aber konnte es noch nicht richtig in Worte fassen – auch nicht für sich selbst.

Sie legte Foto-Paare auf den Felsen und machte Bill auf die Details aufmerksam.

“Sie sind nicht genau gleich,” sagte sie. “Das Opfer in Daggett war nicht so sorgfältig drapiert. Er hat versucht die Leiche zu bewegen nachdem sie schon steif war. Meine Vermutung ist, dass er sie diesmal hergebracht hat bevor die Leichenstarre einsetzte. Sonst hätte er sie nicht so …positionieren können.”

Sie hatte sich zusammenreißen müssen nicht das Adjektiv “schön” zu benutzen. Dann wurde ihr klar, dass es genau das Wort war, das sie früher gebraucht hätte – bevor sie gefangen und gefoltert wurde. Ja, sie war dabei wieder in ihre alte Form zurückzufallen und fühlte die gleiche, alte, dunkle Bedrücktheit in sich wachsen. Bald gäbe es kein Zurück mehr.

Aber war das etwas Gutes oder etwas Schlechtes?

“Was ist mit Fryes Augen?” fragte sie und zeigte auf ein Foto. “Das Blau sieht nicht natürlich aus.”

“Kontaktlinsen,” antwortete Bill.

Das Kribbeln in ihrem Nacken wurde stärker. Eileen Rogers’ Leiche hatte keine Kontaktlinsen gehabt. Das war ein wichtiger Unterschied.

“Und der Glanz auf ihrer Haut?” wollte sie wissen.

“Vaseline.”

Noch ein wichtiger Unterschied. Sie fГјhlte, wie Ideen sich mit atemberaubender Geschwindigkeit zusammensetzten.

“Was hat die Forensik über die Perücke herausgefunden?”

“Noch nichts, außer, dass sie aus anderen Teilen von billigen Perücken zusammengenäht ist.”

Rileys Aufregung wurde größer. bei dem letzten Mord hatte der Mörder eine einfache Einzelperücke benutzt, keine zusammengenähte. Wie auch die Rose, war sie so billig gewesen, dass die Forensik sie nicht nachverfolgen konnte. Riley fühlte, wie die Puzzelteile sich fanden – noch nicht das ganze Puzzel, aber ein großer Teil davon.

“Was hat die Forensik mit der Perücke vor?” fragte sie.

“Das gleiche wie beim letzten Mal – eine Suche nach den Fasern starten und versuchen herauszufinden, wo sie herkamen.”

Überrascht über die Bestimmtheit in der eigenen Stimme, sagte Riley: “Sie verschwenden ihre Zeit.”

Bill sah sie verwirrt an. “Warum?”

Sie spГјrte eine vertraute Ungeduld mit Bill, eine, die sie immer fГјhlte wenn sie schon zwei Schritte weiterdachte als er.

“Schau dir das Bild an, das er versucht uns zu zeigen. Blaue Kontaktlinsen lassen die Augen unnatürlich aussehen. Die Augenlider sind festgenäht, damit die Augen offen bleiben. Der Körper ist aufgesetzt, mit seltsam abstehenden und gespreizten Beinen. Vaseline um ihre Haut wie Plastik aussehen zu lassen. Eine Perücke, die aus Teilen kleinerer Perücken zusammengenäht ist – nicht menschliche Perücken, Puppenperücken. Er wollte, dass beide Opfer wie Puppen aussahen – wie nackte, ausgestellte Puppen.”

“Mein Gott,” sagte Bill, der sich fieberhaft Notizen machte. “Warum haben wir das nicht das letzte Mal in Daggett gesehen?”

Die Antwort schien Riley so offensichtlich, dass sie ein ungeduldiges Stöhnen unterdrücken musste.

“Er war noch nicht gut genug,” sagte sie. “Er war noch dabei herauszufinden, wie er seine Nachricht vermitteln konnte. Er hat noch gelernt.”

Bill sah von seinem Notizblock hoch und schГјttelte bewundernd den Kopf.

“Verdammt, ich habe dich vermisst.”

So sehr sie sein Kompliment auch zu schätzen wusste, merkte Riley, dass eine noch größere Erkenntnis auf dem Weg war. Und sie wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass sie sie nicht erzwingen konnte. Sie musste sich einfach entspannen und sie zu sich kommen lassen. Sie hockte schweigend auf dem Felsen und wartete darauf, dass es passierte. Während sie wartete, zog sie gedankenverloren die Kletten von ihrer Hose.

Nervige Dinger, dachte sie.

Plötzlich fiel ihr Blick auf die Fläche unter ihren Füßen. Andere kleine Kletten, manche von ihnen ganz, andere in kleine Stücke zerbrochen, lagen zwischen den Kletten, die sie selber gerade abgesammelt hatte.

“Bill,” sagte sie mit vor Aufregung zitternder Stimme, “waren diese kleinen Kletten hier, als ihr die Leiche gefunden habt?”

Bill zuckte mit den Achseln. “Ich weiß es nicht.”

Ihre Hände zitterten und schwitzten mehr als je zuvor. Sie suchte durch den Fotostapel, bis sie eine Frontalansicht der Leiche fand. Dort, zwischen ihren gespreizten Beinen, gleich neben der künstlichen Rose, waren kleine, braune Flecken. Das waren die Kletten – die gleichen Kletten, die sie gerade gefunden hatte. Aber niemand hatte gedacht sie wären wichtig. Niemand hatte sich die Mühe gemacht eine nähere, schärfere Aufnahme davon zu machen. Und niemand hatte sich die Mühe gemacht sie wegzufegen, als der Tatort gereinigt wurde.

Riley schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie fühlte sich benommen, fast schwindelig. Auch das war ein Gefühl, das sie nur zu gut kannte – das Gefühl in einen tiefen Abgrund zu fallen, in ein schreckliches schwarzes Nichts, direkt in den Geist des Killers. Sie schlüpfte in seine Schuhe, in seine Erlebnisse. Es war ein gefährlicher und beängstigender Ort. Aber sie gehörte dort hin, zumindest jetzt gerade. Sie musste es annehmen.

Sie fühlte das Selbstvertrauen des Mörders, während er die Leiche den Pfad zum Bach herunterschleppte, fest davon überzeugt, dass er nicht erwischt werden würde und daher nicht in Eile. Er könnte gesummt oder gepfiffen haben. Sie fühlte seine Geduld, sein Können, als er die Leiche auf dem Felsen drapierte.

Und sie konnte die grauenhafte Szene aus seinen Augen sehen. Sie fühlte die tiefe Befriedigung über einen gut erledigten Job – die gleiche Art von Erfüllung, die sie erlebte, wenn sie einen Fall lösten.

Er hatte auf diesem Felsen einen Moment innegehalten um sein Werk zu bewundern.

Während er das tat, hatte er die Kletten von seiner Hose gesammelt. Er wartete nicht einmal bis er unbeobachtet in Sicherheit war. Er hatte sich Zeit genommen. Und sie konnte ihn die gleichen Worte sagen hören.

“Nervige Dinger.”

Ja, er hatte sich sogar die Zeit genommen alle abzusammeln.

Riley atmete tief ein und öffnete die Augen. Eine der Kletten in der eigenen Hand drehend, bemerkte sie, wie klebrig sie waren und spitz genug um möglicherweise etwas DNA an sich zu sammeln.

“Sammel diese Kletten ein,” wies sie ihn an. “Wir könnten vielleicht sogar DNA finden.”

Bill sah sie aus großen Augen an und zog sofort eine Ziplocktüte und eine Pinzette aus der Tasche. Während er die kleinen Kugeln einsammelte, arbeitete ihr Gehirn auf Hochtouren.

“Wir hatten Unrecht,” sagte sie. “Das ist nicht sein zweiter Mord. Es ist sein Dritter.”

Nun sah Bill sie wirklich völlig perplex an.

“Woher weißt du das?” fragte er.

Rileys Körper spannte sich an, als sie versuchte das Zittern unter Kontrolle zu bringen.

“Er ist zu gut geworden. Seine Ausbildungszeit ist vorbei. Er ist jetzt ein Profi. Und er fängt gerade erst an. Er liebt seine Arbeit. Nein, das hier ist mindestens sein Dritter.”

Rileys Hals wurde eng und sie schluckte hart.

“Und es wird nicht lange bis zum Nächsten dauern.”




Kapitel 7


Bill fand sich in einem Meer aus blauen Augen, keine davon echt. Er hatte normalerweise keine Albträume von einem Fall und er hatte auch jetzt keinen – aber es fühlte sich definitiv so an. In der Mitte des Puppenladens konnte man den blauen Augen nicht entkommen; alle weit offen, glänzend und wachsam.

Die kleinen kirschroten Lippen der Puppen, die meisten lächelnd, waren ebenso beunruhigend. Genau wie das penibel gekämmte, künstliche Haar, so steif und unbeweglich. Als er all diese Details betrachtete, fragte Bill sich, wie er die Absicht des Killers nicht hatte sehen können – seine Opfer so puppenähnlich wie möglich erscheinen zu lassen. Er hatte Riley gebraucht um die Verbindung herzustellen.

Gott sei Dank ist sie zurГјck, dachte er.

Trotzdem machte Bill sich Sorgen um sie. Er war von ihrer brillanten Arbeit im Mosby Park geblendet gewesen, aber auf der Fahrt zurück sah sie erschöpft und demoralisiert aus. Sie hatte kaum etwas zu ihm gesagt. Vielleicht war es doch zu viel für sie gewesen.

Er wünschte sich das Riley jetzt mit ihm hier wäre. Sie hatten entschieden, dass es besser wäre sich aufzuteilen, um schneller voranzukommen. Dagegen konnte er nichts sagen. Sie hatte ihn gebeten die Puppenläden in diesem Gebiet zu überprüfen, während sie sich den letzten Tatort noch einmal ansah.

Bill sah sich um und war leicht Гјberfordert. Er fragte sich, was Riley von diesem Laden halten wГјrde. Es war der eleganteste den er bisher gesehen hatte. Am Rand der groГџen UmgehungsstraГџe kam vermutlich viel reiche Kundschaft aus dem Norden Virginias.

Bill schlenderte durch die Regale und eine kleine Puppe fiel ihm ins Auge. Mit ihrem pinken Lächeln und der bleichen Haut erinnerte sie ihn besonders an das letzte Opfer. Auch wenn sie mit ihrem pinken Kleidchen vollständig angezogen war, saß sie in einer verstörend ähnlichen Position.

Plötzlich wurde Bill von einer Stimme neben sich überrascht.

“Ich denke Sie sind in der falschen Abteilung.”

Bill drehte sich um und stand einer stämmigen, kleinen Frau mit einem warmen Lächeln gegenüber. Etwas an ihr sagte ihm, dass sie hier das Sagen hatte.

“Warum sagen Sie das?” fragte Bill.

Die Frau lachte leicht.

“Weil Sie keine Töchter haben. Ich sehe einem Mann auf einen Kilometer Entfernung an, ob er Töchter hat oder nicht. Fragen Sie nicht wie, es ist nur eine Art Instinkt, nehme ich an.”

Bill war verblГјfft und auch beeindruckt.

Sie reichte ihm die Hand.

“Ruth Behnke,” sagte sie.

Bill schГјttelte ihre Hand.

“Bill Jeffreys. Ich nehme an Ihnen gehört der Laden.”

Sie lachte wieder.

“Ich sehe Sie haben auch ihre Instinkte,” sagte sie. “Freut mich Sie kennenzulernen. Aber Sie haben Söhne, oder? Ich würde sagen, drei?”

Bill lächelte. Ihre Instinkte waren mehr als gut. Er nahm an, dass sie und Riley sich gut verstehen würden.

“Zwei,” erwiderte er. “Aber ziemlich nah dran.”

Sie zwinkerte ihm zu.

“Wie alt?” fragte sie.

“Acht und zehn.”

Sie sah sich um.

“Ich weiß nicht, ob ich hier viel für sie habe. Oh, ich habe tatsächlich ein paar altmodische Soldaten im nächsten Gang. Aber das ist nichts, was Jungs heutzutage noch mögen, oder? Jetzt geht es nur noch um Videospiele. Meistens recht gewalttätige.”

“Das befürchte ich auch.”

Sie nickte wohlwollend.

“Sie sind also nicht hier um eine Puppe zu kaufen, oder?” fragte sie.

Bill lächelte und schüttelte den Kopf.

“Sie sind gut,” sagte er.

“Sind Sie vielleicht ein Polizist?” fragte sie.

Bill musste grinsen und zog seine Marke aus der Tasche.

“Nicht ganz, aber wieder gut geraten.”

“Ach du meine Güte,” sagte sie besorgt. “Was hat das FBI mit meinem kleinen Laden zu tun? Bin ich auf irgendeiner Liste?”

“Sozusagen,” erwiderte Bill. “Aber nichts worüber Sie sich Sorgen machen müssten. Ihr Laden ist bei einer Suche aufgetaucht, nach Orten, an denen Antiquitäten und Sammlerpuppen verkauft werden.”

Tatsächlich war Bill sich nicht sicher, wonach er eigentlich suchte. Riley hatte vorgeschlagen, dass er sich einige der Läden ansah, da der Mörder sie regelmäßig besuchen könnte – oder es zumindest einmal hatte. Er wusste nicht, was sie sich davon erhoffte. Erwartete sie, dass der Killer selber hier zu finden sein würde? Oder das einer der Mitarbeiter den Killer getroffen hatte?

Er bezweifelte, dass das der Fall war. Selbst wenn, dann würden sie ihn sicherlich nicht als Mörder erkannt haben. Wahrscheinlich waren alle Männer die herkamen etwas gruselig.

Wahrscheinlicher war, dass Riley versuchte Einblick in den Geist des Mörder zu bekommen, in die Art und Weise wie er die Welt sah. Falls das stimmte, würde sie vermutlich enttäuscht werden. Er hatte einfach nicht den gleichen Verstand wie sie oder ihre Gabe sich in den Mörder zu versetzen.

Es schien ihm, als würde sie nach Strohhalmen greifen. Es gab dutzende Puppenläden innerhalb des Radius’, den sie durchsuchten. Es wäre besser, dachte er, die forensischen Mitarbeiter den Hersteller der Puppen nachverfolgen zu lassen. Auch wenn das bisher leider noch nichts gebracht hatte.

“Ich würde fragen, um was für einen Fall es sich handelt,” sagte Ruth, “aber wahrscheinlich sollte ich das lieber nicht.”

“Nein,” sagte Bill, “sollten Sie nicht.”

Nicht, dass der Fall länger geheim gehalten wurde – nicht nachdem Senator Newbroughs Leute eine Pressemitteilung herausgegeben hatten. Die Medien berichteten auf allen Kanälen darüber. Wie immer wurde das Büro mit falschen Telefonhinweisen überflutet und im Internet konnte man allerlei bizarre Theorien lesen.

Das Ganze war eine lästige Angelegenheit geworden.

Aber warum sollte er der Frau davon erzählen? Sie schien nett zu sein und ihr Laden war so anständig und unschuldig, dass Bill ihn nicht mit etwas so grausigem und schockierenden belasten wollte, wie einem Serienmörder, der besessen von Puppen ist.

Es gab trotzdem noch etwas, das er wissen wollte.

“Erzählen Sie mir, wie viele Verkäufe sie an Erwachsene machen,” bat er. “Ich meine Erwachsene ohne Kinder.”

“Das sind bei weitem die meisten meiner Verkäufe. An Sammler.”

Bill war fasziniert. Damit hatte er nicht gerechnet.

“Woran, denken Sie, liegt das?” fragte er.

Die Frau lächelte ihn seltsam an und sprach in einem sanften Ton.

“Weil Menschen sterben, Bill Jeffreys.”

Bill sah sie verdutzt an.

“Wie bitte?” fragte er.

“Wenn wir älter werden, verlieren wir Menschen. Unsere Freunde und unsere Lieben sterben. Wir trauern. Puppen halten für uns die Zeit an. Sie lassen uns die Trauer vergessen. Sie trösten und beruhigen uns. Sehen Sie sich um. Ich habe Puppen hier, von denen einige fast hundert Jahre alt sind und andere fast neu. Bei vielen werden sie keinen Unterschied sehen können. Sie sind alterslos.”

Bill sah sich um. Die Augen der alten Puppen auf sich starren zu haben, war gruselig und sie fragte sich, wie viele Menschen diese Puppen überlebt hatten. Er fragte sich, was sie alles gesehen hatten – die Liebe, die Wut, die Trauer und die Gewalt. Und trotzdem starrten sie ihn mit dem gleichen, leeren Gesichtsausdruck an. Das machte für ihn keinen Sinn.

Menschen sollten älter werden, dachte er. Sie sollten alt und grau werden, so wie er, wenn man all den Horror und die Dunkelheit bedachte, die in der Welt herrschten. Nach allem was er gesehen hatte, wäre es eine Sünde, dachte er, wenn er immer noch gleich aussehen würde. Die Tatorte hatten sich wie lebende Organismen in ihn versenkt, hatten dafür gesorgt, dass er nicht mehr jung bleiben wollte.

“Sie sind also – nicht lebendig,” sagte Bill schließlich.

Ihr Lächeln wurde bittersüß, fast mitleidig.

“Ist das wirklich wahr, Bill? Die meisten meiner Kunden denken nicht so. Ich bin mir auch nicht sicher, dass ich das denke.”

Eine merkwГјrdige Stille breitete sich aus, das die Frau schlieГџlich mit einem leichten Lachen unterbrach. Sie reichte ihm eine bunte kleine BroschГјre mit Fotos von Puppen.

“Wie es sich gerade ergibt, bin ich bald auf einer Tagung in D.C. Vielleicht wollen Sie auch hingehen. Möglicherweise kann es Ihnen dabei helfen herauszufinden, wonach Sie suchen.”

Bill dankte ihr und verließ den Laden, dankbar für den Tipp bezüglich der Tagung. Er hoffte, dass  Riley mit ihm hingehen würde. Bill erinnerte sich, dass sie an diesem Nachmittag Senator Newbrough und seine Frau befragen sollte. Es war ein wichtiges Treffen – nicht nur weil der Senator wichtige Informationen haben könnte, sondern auch aus diplomatischen Gründen. Newbrough setzte das Büro ziemlich unter Druck. Riley war genau die richtige Agentin um ihn davon zu überzeugen, dass sie alles taten, was sie konnten.

Aber wird sie wirklich auftauchen? fragte er sich.

Es kam ihm seltsam vor, dass er sich nicht sicher war. Noch vor sechs Monaten war Riley die einzige verlässliche Sache in seinem Leben gewesen. Er hatte ihr immer mit seinem Leben vertraut. Aber ihre offensichtliche Verstörtheit machte ihm Sorgen.

Noch mehr als das; er vermisste sie. So sehr er auch manchmal von ihrem schnellen Verstand eingeschüchtert war, brauchte er sie bei einem Fall wie diesem. Während der letzten sechs Wochen war ihm klar geworden wie sehr er ihre Freundschaft brauchte.

Oder war es tief drinnen vielleicht doch mehr als das?




Kapitel 8


Riley fuhr den zweispurigen Highway entlang und nippte an ihrem Energy Drink. Es war ein sonniger, warmer Morgen, ihre Autofenster waren unten und der warme Geruch von frisch gerolltem Heu erfГјllte die Luft. Die Wiesen entlang der StraГџe wurden von Vieh beweidet und die Berge fassten das Tal auf beiden Seiten ein. Es gefiel ihr hier drauГџen.

Aber sie erinnerte sich selber daran, dass sie nicht hergekommen war, um sich gut zu fГјhlen. Sie hatte Arbeit zu tun.

Riley bog auf einen vielbefahrenen Schotterweg ab und kurze Zeit später erreichte sie eine Kreuzung. Sie bog in den Nationalpark ab und hielt dann ein Stück weiter neben der Straße.

Sie stieg aus und ging über das offene Gebiet zu einer großen, stämmigen Eiche, die an der nordöstlichen Ecke stand.

Das war der Ort. Hier war Eileen Rogers� Leiche gefunden worden – unbeholfen vor dem Baum positioniert. Sie und Bill waren zusammen vor sechs Monaten hier gewesen. Riley fing an die Szene in ihrem Kopf nachzubilden.

Der größte Unterschied war das Wetter. Damals war es Mitte Dezember gewesen und bitterkalt. Eine dünne Schicht Schnee hatte den Boden bedeckt.

Geh zurГјck, sagte sie sich selbst. Geh zurГјck und fГјhle es.

Sie atmete tief ein und aus, bis sie sich die schneidende Kälte vorstellen konnte, wie sie durch ihren Hals strömte. Sie konnte fast die dicken Wolken sehen, die sich mit jedem Atemzug vor ihrem Mund im Frost bildeten.

Der nackte Körper war steif gefroren gewesen. Es war daher nicht einfach gewesen festzustellen, welche Wunden durch ein Messer zugefügt und welche Risse durch die Kälte entstanden waren.

Riley rief sich die Szenerie zurück ins Gedächtnis, bis hin zum allerkleinsten Detail. Die Perücke. Das aufgemalte Lächeln. Die offenen Augen. Die künstliche Rose, die zwischen den ausgestreckten Beinen der Leiche lag.

Die Bilder in ihrem Kopf waren jetzt klar. Nun musste sie das gleiche tun wie am Tag zuvor – ein Gefühl für den Verstand des Killers bekommen.

Sie schloss wieder die Augen, entspannte sich und schritt in den dunklen Abgrund. Sie hieß das benommene, schwindelige Gefühl willkommen während sie sich in die Gedanken des Mörders versetzte. Bald würde sie bei ihm sein, in ihm, genau sehen was er sah, fühlen was er fühlte.

Er war nachts hierher gefahren, alles andere als selbstbewusst. Er hatte die Straße ängstlich betrachtete, besorgt über das Eis unter seinen Rädern. Was, wenn er die Kontrolle verlor und in einen Graben rutschte? Er hatte eine Leiche an Bord. Er würde mit Sicherheit geschnappt werden. Er musste vorsichtig fahren. Er hatte gehofft sein zweiter Mord würde einfacher sein als der erste, aber er war immer noch ein Nervenbündel.

Er hielt den Wagen an. Er zog den Körper aus dem Auto – nackt, nahm Riley an – ins Freie. Aber es war schon steif von der Leichenstarre. Damit hatte er nicht gerechnet. Es frustrierte ihn und erschütterte sein Selbstbewusstsein. Dass er nicht wirklich sehen konnte, was er tat, nicht einmal mit den Scheinwerfern auf den Baum gerichtet, machte es noch schlimmer. Die Nacht war viel zu dunkel. Er machte sich eine mentale Notiz das nächste Mal, wenn möglich, bei Tageslicht zu fahren.

Er zog den Körper zum Baum und versuchte ihn in der Pose zu drapieren, die er sich vorgestellt hatte. Es funktionierte nicht gut. Der Kopf der Frau war nach links gefallen, steif gefroren durch die Leichenstarre. Er riss und zog daran. Selbst nachdem er ihr Genick gebrochen hatte konnte er ihn nicht gerade nach vorne richten.

Und wie sollte er die Beine richtig spreizen? Eins der Beine war hoffnungslos angewinkelt. Er hatte keine andere Wahl als das Brecheisen aus dem Wagen zu holen und ihren Oberschenkel und ihre Kniescheibe zu zertrümmern. Dann drehte er das Bein so gut wie möglich, aber konnte es nicht zu seiner Zufriedenheit ausrichten.

Schließlich ließ er die pinke Schleife um ihren Hals zurück, die Perücke auf ihrem Kopf und die Rose im Schnee. Dann war er wieder ins Auto gestiegen und davongefahren. Er war enttäuscht und entmutigt gewesen. Und er hatte Angst gehsbt. Hatte er in seiner Unbeholfenheit einen verhängnisvollen Hinweis hinterlassen? Er wiederholte jede Handlung immer wieder in seinem Kopf, aber er konnte sich nicht sicher sein.

Er wusste, er musste es beim nächsten Mal besser machen. Er versprach sich selbst, dass er es besser machen würde.

Riley öffnete die Augen. Sie ließ die Präsenz des Killers verblassen. Sie war mit sich selbst zufrieden. Sie hatte sich nicht überwältigen lassen. Und sie hatte wertvolle Einblicke bekommen. Sie hatte ein Gefühl dafür bekommen wie der Mörder sein Handwerk lernte.

Sie wünschte nur, dass sie etwas – egal was – über seinen ersten Mord wüsste. Sie war sich sicherer als je zuvor, dass er schon vorher getötet hatte. Das hier war die Arbeit eines Lehrlings gewesen, nicht die eines Anfängers.

Gerade als Riley sich umdrehte, um zu ihrem Auto zurГјckzugehen, fiel ihr Blick auf etwas im Baum. Ein kleiner gelber Fleck war sichtbar, wo sich der Baum Гјber ihrem Kopf teilte.

Sie ging an den Baum heran und sah nach oben.

“Er ist nochmal hier gewesen!” keuchte Riley laut. Schauer liefen ihr über den Rücken und sie sah sich nervös um. Niemand schien in der Nähe zu sein.

In die Äste des Baums gesetzt, starrte eine nackte, weibliche Puppe mit blonden Haaren auf Riley herunter, in der gleichen Weise positioniert, in der der Mörder sein Opfer hatte drapieren wollen.

Sie konnte noch nicht lange hier sein – höchstens drei oder vier Tage. Sie war noch nicht durch Wind bewegt oder Regen beschädigt worden. Der Mörder war hergekommen, als er sich selbst auf den Mord an Reba Frye vorbereitet hatte. So wie Riley es getan hatte, war er hergekommen um seine Arbeit zu reflektieren, seine Fehler kritisch zu betrachten.

Sie machte Fotos mit ihrem Handy und schickte sie sofort an das BГјro.

Riley wusste, warum er die Puppe hier zurГјckgelassen hatte.

Eine Entschuldigung fГјr vergangene Schlampigkeit, dachte sie.

Es war auГџerdem ein Versprechen fГјr bessere Arbeit in der Zukunft.




Kapitel 9


Riley fuhr in die Richtung von Senator Mitch Newbroughs Herrenhaus und ihr Herz füllte sich mit Grauen, als es in Sichtweite kam. Am Ende einer langen, mit Bäumen gesäumten Auffahrt, stand es riesig, formell und einschüchternd. Sie hatte es schon immer schwerer gefunden mit den Reichen und Mächtigen umzugehen, als mit Leuten weiter unten auf der sozialen Leiter.

Sie parkte in dem gepflegten Zirkel vor dem Haus. In der Tat das Haus einer sehr reichen Familie.

Sie stieg aus und ging zu den gewaltigen EingangstГјren. Nachdem sie geklingelt hatte, wurde sie an der TГјr von einem proper aussehenden Mann um die DreiГџig begrГјГџt.

“Ich bin Robert,” sagte er. “Der Sohn des Senators. Und Sie müssen Spezialagentin Paige sein. Kommen Sie rein. Meine Mutter und mein Vater erwarten Sie.”

Robert Newbrough führte Riley ins Haus, das sie sofort wieder daran erinnerte, dass sie diese Art von pompösen Häusern nicht leiden konnte. Das Newbrough Haus war besonders groß und der Weg bis zu dem Raum, in dem der Senator und seine Frau warteten, war unangenehm lang. Riley war sich sicher, dass es eine Art Einschüchterungstaktik war seine Gäste so lange gehen zu lassen; ein Weg um mitzuteilen, dass die Bewohner dieses Hauses zu mächtig waren um sich mit ihnen anzulegen. Riley fand die Dekoration und die Möbel aus der Kolonialzeit außerdem alles andere als schön.

Mehr als alles andere graute ihr vor dem, was in dem Raum auf sie wartete. Für sie war das Reden mit den Familien von Opfern einfach nur schrecklich – viel schlimmer als mit den Tatorten oder sogar den Opfern umzugehen. Es war zu einfach sich in die Trauer, die Wut und die Verwirrung der Leute einwickeln zu lassen. Diese intensiven Emotionen störten ihre Konzentration und lenkten sie von ihrer Arbeit ab.

Während sie durch das Haus gingen, sagte Robert Newbrough, “Vater ist zu Hause, seit …”

Er brach in der Mitte des Satzes ab und Riley konnte das AusmaГџ seines Verlustes spГјren.

“Seit wir von Reba gehört haben,” fuhr er fort. “Es ist schrecklich. Mutter ist besonders erschüttert. Versuchen Sie sie nicht zu sehr aufzuregen.”

“Mein Beileid für ihren Verlust,” sagte Riley.

Robert ignorierte sie und führte Riley in ein geräumiges Wohnzimmer. Senator Mitch Newbrough und seine Frau saßen zusammen auf einer riesigen Couch und hielten sich an den Händen.

“Agentin Paige,” stellte Robert sie vor. “Agentin Paige, lassen Sie mich meine Eltern vorstellen, den Senator und seine Frau, Annabeth.”

Robert bot Riley einen Platz an und setzte sich dann selbst.

“Zuerst,” sagte Riley ruhig, “möchte ich Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen.”

Annabeth Newbrough nahm dies mit einem stillen Nicken zur Kenntnis. Der Senator starrte einfach weiter geradeaus.

In dem kurzen Schweigen, das folgte, versuchte Riley ihre Gesichter einzuschätzen. Sie hatte Newbrough oft im Fernsehen gesehen, immer mit seinem Politikerlächeln. Jetzt lächelte er nicht. Riley hatte noch nicht viel von Frau Newbrough gesehen, die die typische Fügsamkeit einer Politikerfrau zu besitzen schien.

Beide waren Anfang sechzig. Riley bemerkte, dass sie beide große Anstrengungen unternommen hatten um jünger auszusehen – Haarimplantate, gefärbtes Haar, Lifting im Gesicht, Make-up. Rileys Meinung nach hatten ihre Bemühungen nur dafür gesorgt, dass sie leicht künstlich aussahen.

Wie Puppen, dachte Riley.

“Ich muss Ihnen einige Fragen über ihre Tochter stellen,” sagte Riley und nahm ihr Notizbuch aus der Tasche. “Standen Sie in letzter Zeit in engem Kontakt zu Reba?”

“Oh ja,” sagte Frau Newbrough. “Wir stehen uns sehr nahe.”

Riley bemerkte eine leichte Steifigkeit in der Stimme der Frau. Es klang wie etwas, das sie schon zu oft gesagt hatte, ein wenig zu routiniert. Riley war sich ziemlich sicher, dass das Familienleben in Newbrough alles andere als ideal gewesen war.

“Hat Reba etwas davon gesagt, dass sie sich bedroht fühlte?” fragte Riley.

“Nein,” sagte Frau Newbrough. “Nicht ein Wort.”

Riley beobachtete den Senator, der noch nichts gesagt hatte. Sie fragte sich, warum er so ruhig war. Sie musste ihn aus seinem Schweigen locken, aber wie?

Jetzt meldete sich Robert.

“Sie hat kürzlich eine hässliche Scheidung durchlebt. Paul und sie haben sich um das Sorgerecht ihrer beiden Kinder gestritten.”

“Oh, ich konnte ihn nie leiden,” sagte Frau Newbrough. “Er war so launisch. Denken Sie, dass er möglicherweise…?”

Riley schГјttelte den Kopf.

“Ihr Exmann ist kein wahrscheinlicher Verdächtiger,” sagte sie.

“Warum um Himmels willen nicht?” fragte Frau Newbrough.

Riley wog in ihrem Kopf ab was sie ihnen sagen sollte und was nicht.

“Sie haben vielleicht gelesen, dass der Mörder schon einmal zugeschlagen hat,” sagte sie. “Es gab ein ähnliches Opfer in der Nähe von Daggett.”

Frau Newbrough regte sich sichtlich auf.

“Was soll uns das bitteschön sagen?”

“Wir haben es mit einem Serienmörder zu tun,” sagte Riley. “Das hatte nichts mit einer ehelichen Streitigkeit zu tun. Ihre Tochter hat den Mörder vielleicht nicht einmal gekannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es nichts Persönliches.”

Frau Newbrough fing an zu weinen und Riley bereute ihre Wortwahl sofort.

“Nicht persönlich?” Frau Newbrough schrie fast. “Wie kann es etwas anderes als persönlich sein?”

Senator Newbrough sprach zu seinem Sohn.

“Robert, bitte bringe deine Mutter in ihr Schlafzimmer und versuche sie zu beruhigen. Ich muss alleine mit Agentin Paige reden.”

Robert Newbrough fГјhrte seine Mutter gehorsam aus dem Raum. Senator Newbrough sagte erst einmal nichts. Er sah Riley direkt in die Augen. Sie war sich sicher, dass er es gewohnt war Menschen mit seinem Blick einzuschГјchtern. Aber es wГјrde bei ihr nicht funktionieren. Sie starrte einfach zurГјck.

SchlieГџlich griff der Senator in sein Jackett und zog einen Umschlag heraus. Er kam zu ihrem Stuhl und reichte ihn ihr.

“Hier,” sagte er. Dann ging er zurück zur Couch und setzte sich wieder hin.

“Was ist das?” fragte Riley.

Der Senator richtete seinen Blick wieder auf sie.

“Alles was Sie wissen müssen,” sagte er.

Riley war vollkommen perplex.

“Kann ich ihn öffnen?” fragte sie.

“Machen Sie nur.”

Riley Г¶ffnete den Umschlag. Es enthielt ein einzelnes Blatt Papier mit zwei Reihen von Namen darauf. Sie erkannte einige davon. Drei oder vier waren bekannte Reporter von lokalen Fernsehstationen. Andere waren prominente Politiker aus Virginia. Riley war noch verwirrter als zuvor.

“Wer sind diese Leute?” fragte sie.

“Meine Feinde,” sagte Senator Newbrough mit ruhiger Stimme. “Wahrscheinlich keine vollständige Liste. Aber das sind die, auf die es ankommt. Jemand auf dieser Liste ist schuldig.”

Riley sah ihn verblГјfft an. Sie saГџ auf ihrem Stuhl und sagte nichts.

“Ich sage nicht, dass jemand auf dieser Liste meine Tochter von Angesicht zu Angesicht getötet hat,” sagte er. “Aber einer von ihnen hat ganz sicher jemanden dafür bezahlt.”

Riley sprach langsam und vorsichtig.

“Senator, mit allem nötigen Respekt, ich glaube ich habe bereits gesagt, dass der Mord an Ihrer Tochter vermutlich nicht persönlich war. Es gab bereits einen anderen Mord, der fast identisch mit ihrem ist.”

“Wollen Sie sagen, dass meine Tochter rein zufällig ausgewählt wurde?” fragte der Senator.

Ja, wahrscheinlich, dachte Riley.

Aber sie wusste es besser, als das laut zu sagen.

Bevor sie antworten konnte, fügte er hinzu, “Agentin Paige, Ich habe durch harte Erfahrungen gelernt, dass es keine Zufälle gibt. Ich weiß nicht warum oder wie, aber der Tod meiner Tochter war politisch. Und in der Politik ist alles persönlich. Also versuchen Sie nicht mir zu sagen es wäre nicht persönlich. Es ist ihr Job, und das des Büros, herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist und ihn zur Rechenschaft zu ziehen.”

Riley atmete tief durch. Sie betrachtete aufmerksam das Gesicht des Mannes. Sie konnte es jetzt sehen. Senator Newbrough war Narzisst, durch und durch.

Nicht, dass mich das Гјberrascht, dachte sie.

Riley verstand noch etwas anderes. Der Senator fand es unvorstellbar, dass etwas in seinem Leben sich nicht speziell um ihn drehte, und ihn alleine. Sogar der Mord an seiner Tochter drehte sich um ihn. Reba war einfach zwischen ihm und wer auch immer ihn hasste, gefangen worden. Er glaubte das vermutlich wirklich.

“Sir,” begann Riley, “mit allem Respekt, ich denke nicht—”

“Ich möchte nicht, dass Sie denken,” sagte Newbrough. “Sie haben alle Informationen, die sie brauchen, direkt vor sich.”

Sie starrten sich fГјr einige Sekunden an.

“Agentin Paige,” sagte der Senator schließlich, “ich bekomme das Gefühl, dass wir nicht auf der gleichen Wellenlänge sind. Das ist schade. Sie wissen es vielleicht nicht, aber ich habe gute Freunde in den oberen Rängen des FBI. Einige von ihnen schulden mir einen Gefallen. Ich werde mich gleich mit ihnen in Verbindung setzen. Ich brauche jemanden an dem Fall, der seinen Job macht.”

Riley war so geschockt, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. War der Mann wirklich so wirklichkeitsfremd?

Der Senator stand auf.

“Ich schicke jemanden, der Ihnen den Weg nach draußen zeigt, Agentin Paige,” sagte er. “Es tut mir leid, dass wir nicht einer Meinung sind.”

Senator Newbrough ging aus dem Raum und lieГџ Riley alleine dort sitzen. Ihr stand der Mund offen. Der Mann war ohne Zweifel ein Narzisst. Aber sie wusste, dass noch mehr dahinter steckte.

Der Senator versteckte etwas.

Und sie wГјrde herausfinden, was das war.




Kapitel 10


Das erste was Riley ins Auge fiel, war die Puppe – die gleiche nackte Puppe, die sie am Tag zuvor in dem Baum in der Nähe von Daggett gefunden hatte. Für einen Moment war sie davon überrascht sie hier im forensischen Labor des FBI, umgeben von Hightech Ausrüstung, zu sehen. Sie passte nicht hierher – sie sah aus wie ein kranker, kleiner Schrein für vergessene Tage.

Jetzt war sie einfach nur ein weiteres Beweismittel, beschützt durch eine Plastiktüte. Sie wusste, dass das Team sofort losgefahren war nachdem sie sie angerufen hatte. Es war trotzdem eine verstörende Ansicht.

Spezialagent Meredith trat auf sie zu, um sie zu begrГјГџen.

“Es ist lange Herr, Agentin Paige,” sagte er warm. “Willkommen zurück.”

“Es ist gut wieder hier zu sein, Sir,” sagte Riley.

Sie gingen zu dem Tisch, an dem Bill bereits mit dem Labortechniker Flores saГџen. Was sie auch immer fГјr Bedenken hatte, es fГјhlte sich gut an Meredith wiederzusehen. Sie mochte seine nГјchterne, ernste Art und er behandelte sie immer mit Respekt.

“Wie ist es beim Senator gelaufen?” fragte Meredith.

“Nicht gut, Sir,” erwiderte sie.

Riley bemerkte eine leichte Verärgerung auf dem Gesicht ihres Chefs.

“Denken Sie, dass es uns Probleme machen wird?”

“Dessen bin ich mir sicher. Es tut mir leid.”

Meredith nickte mitfГјhlend.

“Ich bin sicher, es ist nicht Ihre Schuld,” sagte er.

Riley nahm an, dass er eine ziemlich gute Vorstellung von dem hatte, was passiert war. Senator Newbroughs Verhalten war vermutlich typisch fГјr einen narzisstischen Politiker. Meredith hatte wahrscheinlich schon Г¶fter damit zu tun gehabt.

Flores tippte mit flinken Fingern über eine Tastatur und während er das tat, wurden grausige Fotos, offizielle Berichte und Zeitungsberichte auf den Monitoren des Raums aufgerufen.

“Wir haben einige Nachforschungen angestellt und wie es aussieht hatte Agentin Paige recht,” sagte Flores. “Der gleiche Mörder hat vorher schon einmal zugeschlagen, lange vor dem Daggett Mord.”

Riley hörte Bills befriedigtes Brummen und für einen Augenblick fühlte sie sich bestätigt, fühlte ihr Selbstvertrauen zurückkehren.

Aber dann sank ihre Stimmung wieder. Eine weitere Frau hatte einen schrecklichen Tod gefunden. Das war kein Anlass zum Feiern. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich gewГјnscht, dass sie unrecht hatte.

Warum kann ich nicht einmal genieГџen Recht zu haben? fragte sie sich.

Eine gigantische Karte von Virgina zeigte sich auf dem Hauptbildschirm und zoomte dann auf die nördliche Hälfte des Staates. Flores markierte einen Ort oben auf der Karte, nahe der Grenze zu Maryland.

“Das erste Opfer war Margaret Geraty, Sechsundreißig Jahre alt,” sagte Flores. “Ihre Leiche wurde auf Farmland etwas dreißig Meilen außerhalb von Belding gefunden. Sie wurde am fünfundzwanzigsten Juni vor fast zwei Jahren ermordet. Das FBI wurde nicht zum Tatort gerufen. Die örtliche Polizei hat den Fall kalt werden lassen.”

Riley sah auf die Tatortfotos, die Flores auf einem anderen Monitor anzeigen ließ. Der Mörder hatte offensichtlich nicht versucht die Leiche zu positionieren. Er hatte sie eilig abgeladen und war verschwunden.

“Vor zwei Jahren,” sagte sie nachdenklich während sie die Details aufnahm. Ein Teil von ihr war überrascht, dass er schon so lange dabei war. Auf der anderen Seite wusste sie, dass diese kranken Killer über Jahre operieren konnten. Sie konnten eine erstaunliche Geduld zeigen.

Sie untersuchte die Fotos.

“Wie ich sehe hatte er seinen Stil noch nicht entwickelt,” bemerkte sie.

“Richtig,” sagte Flores. “Sie trug eine Perücke und ihre Haare waren kurz geschnitten, aber er hat keine Rose hinterlassen. Sie wurde aber mit einer pinken Schleife erdrosselt.”

“Er hat das Szenario durchgepeitscht,” sagte Riley. “Seine Nerven haben nicht mitgemacht. Es war das erste Mal und er hatte nicht genug Selbstbewusstsein. Bei Eileen Rogers war er etwas besser, aber erst mit dem Mord an Reba Frye ist er richtig in Fahrt gekommen.”

Sie erinnerte sich an etwas, das sie hatte fragen wollen.

“Haben Sie irgendeine Verbindung zwischen den Opfern gefunden? Oder zwischen den Kindern der beiden Mütter?”

“Bis jetzt noch nicht,” sagte Flores. “Bei der Überprüfung der Elterngruppen haben wir nichts gefunden. Keine scheint die jeweils andere gekannt zu haben.”

Das entmutigte Riley, aber es Гјberraschte sie auch nicht wirklich.

“Was ist mit der ersten Frau?” fragte Riley. “Sie war auch eine Mutter, nehme ich an.”

“Nein,” erwiderte Flores schnell, als hätte er nur auf die Frage gewartet. “Sie war verheiratet, aber kinderlos.”

Riley war überrascht. Sie war sich sicher gewesen, dass der Killer es auf Mütter abgesehen hatte. Wie hatte sie so falsch liegen können?

Sie konnte spüren wie ihr steigendes Selbstbewusstsein plötzlich schlagartig abnahm.

Als Riley zögerte fragte Bill, “Wie sieht es mit der Identifikation von Verdächtigen aus? Seid ihr in der Lage gewesen etwas von den Kletten aus Mosby Park zu bekommen?”

“Kein Glück,” sagte Flores. “Wir haben Spuren von Leder anstatt Blut gefunden. Der Täter hat Handschuhe getragen. Er scheint penibel zu sein. Selbst am ersten Tatort hat er keine Fingerabdrücke oder DNA hinterlassen.”

Riley seufzte. Sie hatte so sehr gehofft, dass sie etwas gefunden hatte, was von anderen Гјbersehen worden war. Jetzt fГјhlte sie sich wieder ganz am Anfang.

“Besessen von Details,” kommentierte sie.

“Das mag sein, ich denke aber trotzdem, dass wir näher kommen,” fügte Flores hinzu.

Er nutze einen Laserpointer um die Tatorte anzuzeigen und zeichnete Linien zwischen ihnen.

“Nachdem wir jetzt von seinem ersten Mord wissen, haben wir die Reihenfolge und eine bessere Vorstellung vom Gebiet,” sagte Flores. “Wir haben die Nummer Eins, Margaret Geraty in Belding, hier oben, Nummer Zwei, Eileen Rogers, drüben im Westen in Mosby Park und Nummer Drei, Reba Frye, weiter im Süden in der Nähe von Daggett.”

Riley sah, wie die drei Orte ein Dreieck auf der Karte bildeten.

“Wir haben ein Gebiet von etwa tausend Quadratmetern,” sagte Flores. “Aber das ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. In dem Gebiet finden sich hauptsächlich Farmland und ein paar kleine Städte. Im Norden haben wir ein paar größere Anwesen, wie das des Senators. Viel offenes Land.”

Riley sah den Blick professioneller Zufriedenheit auf Flores’ Gesicht. Es war deutlich zu sehen, dass er seine Arbeit liebte.

“Ich lasse jetzt alle registrierten Sexualstraftäter in diesem Gebiet anzeigen,” sagte er. Er tippte einen Befehl ein und in dem Dreieck leuchteten etwa zwei Dutzend kleine rote Punkte auf.

“Jetzt eliminiere ich die Pädophilen,” sagte er. “Ich denke wir können uns sicher sein, dass unser Killer nicht dazugehört.”

Flores tippte einen weiteren Befehl ein und etwa die Hälfte der Punkte verschwand.

“Jetzt grenzen wir es auf die harten Fälle ein – Kerle, die im Gefängnis waren für Vergewaltigung, Mord oder beides.”

“Nein,” sagte Riley abrupt. “Das ist falsch.”

Alle drei Männer sahen sie überrascht an.

“Wir suchen nicht nach einem gewalttätigen Verbrecher,” sagte sie.

Flores schnaubte. “Von wegen!” protestierte er.

Ein Schweigen senkte sich Гјber den Raum. Riley fГјhlte wie sich eine Einsicht formte, aber sie konnte sie noch nicht richtig greifen. Sie starrte die Puppe an, die immer noch auf groteske Weise auf dem Tisch saГџ.




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