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Ersehnt
Blake Pierce


Ein Riley Paige Krimi #3
ERSEHNT ist Band #3 in der Bestseller Riley Paige Krimi Serie, die mit VERSCHWUNDEN (Band #1) beginnt. Als in Phoenix Prostituierte tot aufgefunden werden, schenkt dem niemand viel Aufmerksamkeit. Aber wenn ein Muster verstörender Morde ersichtlich wird, muss sich die örtliche Polizei eingestehen, dass ein Serienmörder unterwegs ist und sie selber hoffnungslos überfordert. Der Fall wird dem FBI übergeben und sie wissen, dass sie ihre brillanteste Agentin brauchen, um den Fall zu lösen: Spezialagentin Riley Paige. Riley, die sich von ihrem letzten Fall erholt und versucht die Bruchstücke ihres Lebens wieder zusammenzusetzen, ist zunächst zurückhaltend. Aber als sie von dem Ausmaß der Verbrechen hört und ihr klar wird, dass der Mörder bald wieder zuschlagen wird, fühlt sie sich gezwungen den Fall anzunehmen. Sie beginnt nach dem schwer zu fassenden Mörder zu jagen und ihre zwanghafte Natur drängt sie zu weit – diesmal vielleicht zu weit, um sich selbst vor dem Abgrund zu retten. Rileys Suche führt sie in die beunruhigende Welt von Prostitution, zerrütteten Familien und zersplitterten Träumen. Sie erfährt, dass es selbst unter diesen Frauen Hoffnungsschimmer gibt, Hoffnung, die von einem brutalen Psychopathen geraubt wird. Als ein junges Mädchen entführt wird, versucht Riley, in einem panischen Kampf gegen die Zeit, sich in den Verstand des Mörders zu versetzen. Aber was sie entdeckt, führt sie zu einer Wendung, die schockierender ist, als sie sich jemals hätte vorstellen können. ERSEHNT ist ein dunkler Psychothriller mit Spannung, die Herzklopfen bereitet, und Band #3 in der fesselnden neuen Serie – mit einem geliebten neuen Charakter – die sie nicht mehr loslassen wird. Band #4 der Riley Paige Serie bald erhältlich.







E R S E H N T



(EIN RILEY PAIGE KRIMI - BAND #3)



B L A K E P I E R C E


Blake Pierce



Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller Riley Paige Krimi Serie, die bisher die spannenden Thriller VERSCHWUNDEN (Band #1), GEFESSELT (Band #2) und ERSEHNT (Band #3) umfasst. Blake Pierce ist auГџerdem auch die Autorin der MACKENZIE WHITE Krimi Serie.

Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi und Thriller Genres. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com (http://www.blakepierceauthor.com) und bleiben Sie in Kontakt!



Copyright В© 2016 Morgan Rice

Aus dem Englischen von Marina Sun

Alle Rechte vorbehalten.

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Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig.

Copyright Umschlagbild GongTo, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com


BГњCHER VON BLAKE PIERCE



RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)



MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)


Inhalt

PROLOG (#u2302afd9-2119-59b3-9b3a-a3afa9990f2f)

KAPITEL EINS (#uc1d755b9-c1c0-5988-b5db-b89632c575d9)

KAPITEL ZWEI (#u9feb5ce4-f3fd-55a1-b5d8-c78f6eb10d10)

KAPITEL DREI (#u7411b635-829a-5d9d-b4cb-9d07a0ab5c83)

KAPITEL VIER (#u770af3ca-c858-5e9c-8590-04c2dcc2dee2)

KAPITEL FГњNF (#uf1d9db4e-1a4b-5a51-9cfe-c9e63461e3af)

KAPITEL SECHS (#uf5cf433b-44c2-57ce-91fe-0af36ad2fcb2)

KAPITEL SIEBEN (#u59b3ab83-99ce-5509-935b-d75a02be64c4)

KAPITEL ACHT (#ub5e082c2-ec84-5556-bbee-a3d76dd843f6)

KAPITEL NEUN (#u38170bf6-3862-5d00-be08-b535fe1a10af)

KAPITEL ZEHN (#u1e6381f1-a96e-578f-b371-e075712a7813)

KAPITEL ELF (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWГ–LF (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL FГњNFZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL DREIUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL SECHSUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL DREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL DREIUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL FГњNFUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNUNDDREISSIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDVIERZIG (#litres_trial_promo)




Prolog


Janine dachte, dass sie etwas Dunkles im Wasser, in der Nähe des Ufers, sah. Es war groß und schwarz und schien sich leicht in den sanften Wellen des Wassers zu bewegen.

Sie zog an dem Joint und reichte ihn ihrem Freund zurГјck. War das vielleicht ein wirklich groГџer Fisch? Oder eine andere Kreatur?

Janine schГјttelte sich leicht und ermahnte sich, ihre Fantasie nicht mit sich durchgehen zu lassen. Angst wГјrde ihr High ruinieren. Nimbo Lake war ein riesiges, kГјnstliches Reservoir, in dem, wie in vielen anderen Seen in Arizona, Fische fГјr Angler ausgesetzt waren. Hier hatte es noch nie Geschichten von irgendwelchen anderen Seekreaturen gegeben.

Sie hörte Colby sagen, “Wow, der See brennt!”

Janine drehte sich zu ihrem Freund um. Sein Gesicht voller Sommersprossen und die roten Haare leuchteten in der Sonne des späten Nachmittags. Er hatte gerade an dem Joint gezogen und starrte mit einem Ausdruck idiotischer Ehrfurcht über das Wasser.

Janine kicherte. “Du bist einfach high, Mann”, sagte sie. “Aber so was von.”

“Jup, aber schau dir den See an”, sagte Colby.

Janine sah über den See. Auch wenn ihr eigenes High noch nicht ganz den Höhepunkt erreicht hatte, war der Anblick beeindruckend. Die späte Nachmittagssonne ließ die Wände des Canyons in Rot und Gold erstrahlen. Das Wasser reflektierte die Farben wie ein großer Spiegel.

Sie erinnerte sich daran, dass nimbo Spanisch fГјr Heiligenschein war. Der Name passte gut.

Sie nahm den Joint zurГјck und spГјrte das angenehme Brennen im Hals, als sie tief inhalierte. Bald wГјrde sie das beste High erreicht haben. Sie freute sich darauf.

Trotzdem, was war die schwarze Form da im Wasser?

Nur eine Lichtspiegelung, sagte Janine sich selbst.

Was auch immer es war, es war besser es zu ignorieren, anstatt sich Angst machen zu lassen. Alles andere war so perfekt. Das hier war ihr Lieblingsplatz, ihrer und Colbys - so schön, in einer Bucht des Sees versteckt, weg von dem Campingplatz, weg von allem und jedem.

Sie und Colby kamen normalerweise am Wochenende her, aber heute hatten sie dafür die Schule geschwänzt. Das letzte Sommerwetter war zu gut, um in der Schule zu versauern. Es war deutlich kühler und schöner hier oben, als in Phoenix. Colbys Wagen stand auf dem Feldweg hinter ihnen.

Während sie über den See blickte, kam das ersehnte Summen - das Gefühl von einem wirklich guten, bevorstehenden High. Der See schien zu märchenhaft zu sein, um ihn anzusehen. Sie sah Colby an. Er sah auch unglaublich schön aus. Sie packte ihn am T-Shirt und küsste ihn. Er küsste sie zurück. Er schmeckte fantastisch. Alles an ihm sah fantastisch aus und fühlte sich auch so an.

Sie zog ihre Lippen von ihm zurück, sah ihm in die Augen und sagte atemlos, “Nimbo heißt Heiligenschein, wusstest du das?”

“Wow”, sagte er. “Wow.”

Er klang als wäre das das Eindrucksvollste, was er je in seinem Leben gehört hatte. Er hörte sich so seltsam an, während er das sagte, als wäre es etwas Religiöses. Janine fing an zu lachen und Colby stimmte mit ein. Innerhalb von Sekunden lagen sie sich in den Armen, grapschten und befummelten sich.

Janine schaffte es sich loszureiГџen.

“Was ist los?” fragte Colby.

“Nichts”, sagte Janine.

Sie zog sich mit einem Ruck ihr Top Гјber den Kopf. Colbys Augen wurden groГџ.

“Was machst du?” fragte er.

“Was glaubst du, das ich mache?”

Sie begann an seinem T-Shirt zu zerren und versuchte es ihm auszuziehen.

“Wow, warte”, sagte Colby. “Hier?”

“Warum nicht hier? Besser als auf dem Rücksitz von deinem Wagen. Niemand guckt zu.”

“Aber vielleicht kommt ein Boot …”

Janine lachte “Und was, wenn ein Boot kommt? Wen kümmert's?”

Jetzt beteiligte Colby sich enthusiastisch und half ihr sein T-Shirt auszuziehen. Sie waren in ihrer Aufregung beide tollpatschig, was die Vorfreude nur noch erhöhte. Janine fragte sich, warum sie das nicht schon längst hier getan hatten. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie hier einen Joint rauchten.

Aber Janine dachte immer noch an die Form im Wasser. Es war etwas und bis sie wusste, was es war, wГјrde es sie weiter nerven und alles ruinieren.

Keuchend richtete sie sich auf.

“Komm”, sagte sie. “Lass uns etwas nachsehen.”

“Was?” fragte Colby.

“Ich weiß nicht. Komm einfach mit.”

Sie nahm Colbys Hand und sie stolperten den Abhang zum Wasser hinunter. Janines High fing an sich abzukГјhlen. Sie hasste es, wenn das passierte. Je schneller sie herausfand, dass das Ganze harmlos war, desto schneller konnte sie zu dem guten GefГјhl zurГјckkehren.

Sie wünschte sich, ihr High wäre nicht so schnell und stark gekommen.

Mit jedem Schritt kam das Objekt mehr ins Blickfeld. Es war aus schwarzem Plastik und hier und da brachen kleine Blasen davon durch die Wasseroberfläche. Und daneben war etwas Kleines und Weißes.

Als sie direkt am Wasser standen, konnte Janine sehen, dass es ein schwarzer MГјllsack war. An einem Ende war er offen und aus der Г–ffnung ragte die Form einer unnatГјrlich bleichen Hand.

Vielleicht eine Schaufensterpuppe, dachte Janine.

Sie beugte sich zum Wasser, um einen besseren Blick zu bekommen. Die grellrot angemalten Fingernägel standen in starkem Kontrast zu der bleichen Farbe. Eine schreckliche Erkenntnis durchfuhr Janines Körper wie ein elektrischer Schlag.

Die Hand war echt. Es war eine Frauenhand. In dem MГјllsack war eine Leiche.

Janine fing an zu schreien. Sie hörte auch Colby neben sich schreien.

Und sie wusste, dass sie für eine lange Zeit nicht in der Lage sein würden, mit dem Schreien aufzuhören.




Kapitel Eins


Riley wusste, das die Bilder, die folgten, ihre FBI Akademie Studenten schocken wГјrden. Einige von ihnen wГјrden es vermutlich schwer verkraften. Sie sah in die eifrigen jungen Gesichter, die sie von den im Halbkreis hintereinander aufgestellten Tischen ansahen.

Schauen wir mal, wie sie reagieren, dachte sie. Das könnte wichtig für sie sein.

Natürlich wusste Riley, dass in der breiten Palette der Verbrechen, Serienmorde relativ selten waren. Trotzdem mussten diese jungen Leute alles lernen, was es zu lernen gab. Sie wollten FBI Agenten werden und würden bald herausfinden, dass die meisten örtlichen Polizisten keine Erfahrung mit Serienverbrechen hatten. Und Spezialagentin Riley Paige war eine Autorität für Serienmorde.

Sie drückte auf die Fernbedienung. Die ersten Bilder, die auf dem großen Flachbildschirm erschienen, waren alles andere als gewalttätig. Es waren fünf Kohlezeichnungen von Frauen verschiedenen Alters. Alle fünf Frauen waren attraktiv und lächelten und die Porträts zeigten artistisches Talent.

Als Riley klickte, sagte sie, “Diese fünf Zeichnungen wurden vor acht Jahren von einem Künstler namens Derrick Caldwell angefertigt. Jeden Sommer hat er viel Geld damit verdient, Porträts von Touristen zu zeichnen, die hier auf dem Dunes Beach Boardwalk in Virginia unterwegs waren. Diese Frauen waren unter den letzten seiner Kunden.”

Nach dem letzten der fünf Porträts klickte Riley erneut. Die nächste Aufnahme zeigte das abscheuliche Bild einer offenen Gefriertruhe, die mit den abgetrennten Gliedmaßen weiblicher Körper gefüllt war. Sie hörte die Studenten hörbar nach Luft schnappen.

“Das ist aus diesen Frauen geworden”, sagte Riley. “Während er sie zeichnete, hat Derrick Caldwell sich davon überzeugt, dass, um seine eigenen Worte zu nutzen, sie 'zu schön waren, um zu leben.' Also hat er sie eine nach der anderen gejagt, sie getötet, zerteilt und in seiner Gefriertruhe aufbewahrt.”

Riley klickte wieder und die nächsten Bilder waren noch schockierender. Es waren Fotos, die von dem Team des Gerichtsmediziners gemacht worden waren, nachdem sie die Leichen wieder zusammengesetzt hatten.

Riley sagte, “Caldwell hat die Leichenteile 'gemischt', sodass die Frauen bis zur Unkenntlichkeit entmenschlicht wurden.”

Riley wandte sich wieder an die Klasse. Ein Student lief zum Ausgang, während er sich den Magen hielt. Auch andere sahen so aus, als wären sie kurz davor sich übergeben zu müssen. Viele hatten Tränen in den Augen. Nur eine Handvoll schien unbeeindruckt.

Paradoxerweise war sich Riley sicher, dass die unbeeindruckten Studenten diejenigen sein würden, die das Training in der Akademie nicht abschlossen. Für sie waren das hier nur Bilder, nichts Reales. Sie würden den wahren Horror nicht überleben, wenn sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Sie würden nicht in der Lage sein, die persönlichen Auswirkungen, den möglichen posttraumatischen Stress, zu verkraften. Visionen der brennenden Fackel stahlen sich immer noch von Zeit zu Zeit in ihre Gedanken, aber ihr PTBS nahm ab. Sie heilte. Aber sie war sich sicher, dass jeder zuerst etwas fühlen musste, bevor er sich davon erholen konnte.

“Und jetzt”, sagte Riley, “möchte ich, dass Sie mir sagen, ob die folgenden Aussagen wahr oder falsch sind. Hier ist die Erste. 'Die meisten Serienmörder töten aus sexuellen Gründen.' Fakt oder Mythos?”

Die Hände der Studenten schossen nach oben. Riley zeigte auf einen besonders eifrig aussehenden Studenten in der ersten Reihe.

“Fakt?” sagte er.

“Ja, Fakt”, bestätigte Riley. “Auch wenn es andere Motive gibt, ist die sexuelle Komponente die häufigste. Das kann verschiedene Formen annehmen, manchmal recht bizarre. Derrick Caldwell ist ein klassisches Beispiel. Der Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass er die Leichen der Opfer geschändet hat, bevor er sie zerteilte.”

Riley sah, wie die meisten ihrer Studenten Notizen in ihre Laptops tippten. Sie fuhr fort, “Hier ist die nächste Aussage: 'Serienmörder werden zunehmend gewalttätiger, je länger sie töten.'“

Wieder hoben sich viele Hände. Diesmal zeigte sie auf einen Studenten weiter hinten in den Reihen.

“Fakt?” sagte der Student.

“Mythos”, schüttelte Riley den Kopf. “Auch wenn ich Ausnahmen für die Regel gesehen habe, zeigt sich in den meisten Fällen keine solche Änderung über die Zeit. Derrick Caldwells Gewalttätigkeit blieb konsistent, während er tötete. Aber er war waghalsig, kaum ein böses Genie. Er wurde gierig. Er hat seine Opfer in einem Zeitraum von anderthalb Monaten getötet. Indem er dadurch die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, war seine Verhaftung unausweichlich.”

Sie sah auf die Uhr und bemerkte, dass ihre Stunde vorbei war.

“Das ist alles für heute”, sagte sie. “Aber es gibt viele falsche Annahmen über Serienmörder und viele Mythen zirkulieren noch. Das BAU hat die Daten gesammelt und analysiert und ich habe an Serienmorden im ganzen Land gearbeitet. Trotzdem gibt es noch viele Informationen, die uns fehlen.”

Die Klasse zerstreute sich und Riley fing an, ihre Materialien zusammenzupacken, um nach Hause zu gehen. Drei oder vier Studenten drängten sich um ihr Pult, um Fragen zu stellen.

Ein Student fragte, “Agentin Paige, waren sie nicht auch an dem Derrick Caldwell Fall beteiligt?”

“Ja, das war ich”, sagte Riley. “Aber das ist eine Geschichte für ein andermal.”

Es war auch eine Geschichte, die sie nicht unbedingt erzählen wollte, aber das sagte sie nicht.

Eine junge Frau fragte, “Wurde Caldwell für seine Verbrechen hingerichtet?”

“Noch nicht”, sagte Riley.

Riley wollte nicht unhöflich sein, aber schob sich an den Studenten vorbei zum Ausgang. Caldwells bevorstehende Hinrichtung war nichts, was sie mit ihnen diskutieren wollte. In Wahrheit erwartete sie, dass die Hinrichtung jetzt jederzeit festgesetzt werden konnte. Als die leitende Agentin in seinem Fall, hatte sie die Einladung seinem Tod beizuwohnen. Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie sie annehmen würde.

Riley fühlte sich gut, als sie aus dem Gebäude in einen angenehmen September Nachmittag ging. Sie hatte schließlich immer noch Urlaub vom Außendienst.

Seit ein wahnsinniger Serienmörder sie gefangen gehalten hatte, litt sie unter PTSD. Sie war entkommen und hatte ihren Peiniger schließlich ausschalten können. Aber selbst danach hatte sie keinen Urlaub gemacht. Sie war gleich zum nächsten Fall gefahren. Ein schauriger Fall im Hinterland von New York, der damit geendet hatte, dass sich der Mörder vor ihnen mit einem Messer die Kehle durchschnitt.

Der Moment verfolgte sie immer noch. Als ihr Vorgesetzter, Brent Meredith, sie wegen eines neuen Falles ansprach, hatte sie abgelehnt. Auf Merediths Vorschlag hin hatte sie zugestimmt stattdessen eine Klasse in Quantico, an der FBI Akademie zu unterrichten.

Als sie nun in ihr Auto stieg und nach Hause fuhr, dachte Riley darГјber nach, was fГјr eine gute Entscheidung es gewesen war. Endlich hatte ihr Leben ein GefГјhl von Ruhe und Frieden.

Und trotzdem kroch ein vertrautes GefГјhl in ihr hoch, eines, das ihr Herz mitten an diesem klaren, blauen Tag zum Pochen brachte. Es war das GefГјhl von Vorahnung, wurde ihr klar, von etwas Drohendem, das kurz bevorstand.

Und so sehr sie auch versuchte sich vorzustellen fГјr immer in dieser Ruhe zu verbringen, wusste sie doch, dass sie nicht anhalten wГјrde.




Kapitel Zwei


Riley zuckte leicht zusammen, als sie das Vibrieren in ihrer Tasche spГјrte. Sie hielt vor der HaustГјr des neuen Stadthauses und zog ihr Telefon heraus. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Es war eine Nachricht von Brent Meredith.

Rufen Sie an.

Riley machte sich Sorgen. Ihr Chef könnte einfach fragen wollen, wie es ihr ging. Das tat er in letzter Zeit häufiger. Auf der anderen Seite könnte er sie zurück zur Arbeit rufen. Was würde sie dann tun?

Ich wГјrde natГјrlich nein sagen, dachte Riley bestimmt.

Das könnte allerdings alles andere als leicht werden. Sie mochte ihren Chef und sie wusste, dass er sehr überzeugend sein konnte. Es war eine Entscheidung, die sie nicht treffen wollte, also legte sie ihr Telefon zurück.

Als sie die HaustГјr Г¶ffnete und in ihr helles, sauberes neues Zuhause trat, verschwanden Rileys Г„ngste fГјr einen Moment. Alles fГјhlte sich so richtig an, seit sie hierher gezogen waren.

Eine melodische Stimme rief.

“¿Quién es?”

“Soy yo,” rief Riley zurück. “Ich bin wieder zu Hause Gabriela.”

Ihre guatemalische Haushälterin trat aus der Küche und trocknete sich die Hände mit einem Handtuch. Es war schön Gabrielas lächelndes Gesicht zu sehen. Sie war seit langem ihre Haushälterin, schon Jahre bevor Riley sich von Ryan hatte scheiden lassen. Riley war dankbar, dass Gabriela zugestimmt hatte, bei ihr und ihrer Tochter einzuziehen.

“Wie war dein Tag?” fragte Gabriela.

“Sehr gut”, erwiderte Riley.

“¡Qué bueno!”

Gabriela verschwand wieder in der Küche. Der wundervolle Geruch von Abendessen lag in der Luft. Sie hörte Gabriela auf Spanisch singen.

Riley stand in ihrem Wohnzimmer und genoss ihre Umgebung. Sie und ihre Tochter waren erst vor kurzem hierher gezogen. Das kleine Haus im Farm-Stil, in dem sie seit dem Ende ihrer Ehe gelebt hatten, war zu isoliert, um sicher zu sein. AuГџerdem hatte Riley das dringende Verlangen gehabt, etwas zu Г¤ndern, fГјr sich selbst und fГјr April. Jetzt, wo ihre Scheidung endlich durch war und Ryan groГџzГјgigen Unterhalt zahlte, war es Zeit ein neues Leben anzufangen.

Es gab immer noch unfertige Ecken, um die sie sich kümmern musste. Viele ihrer Möbel waren recht alt und passten nicht in so ein hochwertiges Umfeld. Sie würde Ersatz dafür finden müssen. Eine der Wände sah zu leer aus und Riley hatte schon alle ihre Bilder aufgehängt. Sie machte sich eine mentale Notiz, am kommenden Wochenende mit April einkaufen zu gehen. Der Gedanke schien Riley angenehm normal, als wäre sie eine Frau mit einem schönen Familienleben anstatt eine Agentin, die teuflische Mörder jagte.

Jetzt fragte sie sich—wo ist April?

Sie lauschte. Keine Musik kam aus Aprils Zimmer im Obergeschoss. Dann hörte sie ihre Tochter schreien.

Aprils Stimme kam aus dem Garten hinter dem Haus. Riley keuchte und rannte durch den Esszimmerbereich auf die große Terrasse. Als sie sah, wie Aprils Gesicht und Oberkörper kurz über dem Zaun auftauchten, der zwischen den Gärten war, brauchte Riley einen Moment, um zu verstehen, was vor sich ging. Dann entspannte sie sich und lachte. Ihre automatische Panik war eine Überreaktion gewesen. Aber sie war instinktiv. Es war noch nicht lange her, dass Riley April aus den Fängen eines Wahnsinnigen hatte retten müssen, der es nur auf April abgesehen hatte, um sich an ihrer Mutter zu rächen.

April tauchte auf und verschwand wieder, wobei sie vor Freude quietschte. Sie sprang auf dem Trampolin des Nachbarn. Sie hatte sich schnell mit dem Mädchen angefreundet, das dort lebte. Sie war ein Teenager, etwa im gleichen Alter, und ging auf die gleiche Highschool.

“Sei vorsichtig!” rief Riley ihrer Tochter zu.

“Alles gut, Mom!” rief April atemlos zurück.

Riley lachte wieder. Es war ein fast unvertrauter Laut, der aus einem Gefühl entsprang, das sie beinahe vergessen hatte. Sie wollte sich wieder daran gewöhnen zu lachen.

Sie wollte sich auch an das freudige Gesicht ihrer Tochter gewöhnen. Es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass April als ein schrecklich rebellischer und schmollender Teenager durch das Haus stampfte. Riley konnte April keinen Vorwurf machen. Sie wusste, dass sie als Mutter einiges zu wünsche übrig ließ. Sie tat alles was sie konnte, um das zu ändern.

An ihrer Beurlaubung gefiel ihr besonders gut, dass sie nicht die langen, unregelmäßigen Arbeitsstunden weit weg von zu Hause hatte. Jetzt stimmten ihre Stunden mit denen von April überein und Riley fürchtete sich vor dem Tag, an dem sich das wieder ändern würde.

Wir sollten es genießen, solange wir können, dachte sie.

Riley ging zurück ins Haus und hörte gerade rechtzeitig, wie es an der Türe klingelte.

Sie rief, “Ich gehe schon, Gabriela.”

Sie öffnete die Tür und war überrascht sich einem lächelnden Mann gegenüber zu finden, den sie nicht erkannte.

“Hi”, sagte er etwas schüchtern. “Ich bin Blaine Hildreth, von nebenan. Ihre Tochter ist gerade bei uns, mit meiner Tochter, Crystal.” Er hielt Riley eine Schachtel hin und fügte hinzu, “Willkommen in der Nachbarschaft. Ich habe Ihnen ein Einweihungsgeschenk mitgebracht.”

“Oh”, sagte Riley. Sie war von der unerwarteten Freundlichkeit überrascht. Daher brauchte sie einen Moment, bis sie sagen konnte, “Bitte, kommen Sie herein.”

Sie nahm die Schachtel ungelenk entgegen und bot ihm im Wohnzimmer an, sich zu setzen. Riley setzte sich auf das Sofa und hielt das Geschenk auf ihrem Schoss. Blaine Hildreth sah sie erwartungsvoll an.

“Das ist so freundlich von Ihnen”, sagte sie und öffnete die Schachtel. Es war ein gemischtes Set farbenfroher Kaffeebecher, zwei von ihnen mit Schmetterlingen, die anderen beiden mit Blumen.

“Die sind sehr schön”, sagte Riley. “Möchten Sie einen Kaffee?”

“Sehr gerne”, sagte Blaine.

Riley rief Gabriela, die aus der KГјche kam.

“Gabriela, kannst du uns in diesen Bechern Kaffee bringen?” bat sie und reichte ihr die Schachtel. “Blaine, wie mögen Sie Ihren?”

“Schwarz bitte.”

Gabriela nahm die Becher mit in die KГјche.

“Mein Name ist Riley Paige”, sagte sie zu Blaine. “Danke, dass Sie vorbeigekommen sind. Und vielen Dank, für das Geschenk.”

“Gern geschehen”, sagte Blaine.

Gabriela kam mit zwei Tassen köstlichen, heißen Kaffees zurück und ging dann wieder in die Küche. Zu ihrer Verlegenheit bemerkte Riley, dass sie ihren männlichen Nachbarn genau ins Auge nahm. Jetzt, da sie Single war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. Sie hoffte, dass es ihm nicht auffiel.

Ach, und wenn schon, dachte sie. Vielleicht macht er gerade das gleiche mit mir.

Zuallererst fiel ihr auf, dass er keinen Ehering trug. Witwer oder geschieden, dachte sie.

Zweitens schien er etwa in ihrem Alter zu sein, vielleicht ein bisschen jГјnger, wahrscheinlich Ende dreiГџig.

Er sah auГџerdem recht gut aus. Er hatte beginnende Geheimratsecken, aber das sprach nicht gegen ihn. Und er schien schlank und fit zu sein.

“Also, was machen Sie so?” fragte Riley.

Blaine zuckte mit den Schultern. “Mir gehört ein Restaurant. Kennen Sie Blaine's Grill im Stadtzentrum?”

Riley war angenehm überrascht. Blaine's Grill war eines der schönsten Mittagstisch-Restaurants in Fredericksburg. Sie hatte gehört, dass es auch am Abend hervorragend war, aber sie hatte noch keine Möglichkeit gehabt es auszuprobieren.

“Da war ich schon”, sagte sie.

“Nun ja, das ist meins”, sagte Blaine. “Und Sie?”

Riley atmete tief durch. Es war nie einfach einem Fremden zu sagen, was sie beruflich tat. Vor allem Männer schienen von der Antwort eingeschüchtert zu werden.

“Ich bin beim FBI”, sagte sie. “Agentin im Außendienst.”

Blaine machte groГџe Augen.

“Wirklich?” fragte er überrascht.

“Nun ja, jetzt gerade bin ich beurlaubt. Ich unterrichte eine Klasse an der Akademie.”

Blaine lehnte sich interessiert vor.

“Wow. Ich bin sicher, dass Sie faszinierende Geschichten haben. Ich würde mich freuen eine zu hören.”

Riley lachte leicht nervös. Sie fragte sich, ob sie jemals in der Lage sein würde jemandem außerhalb des Büros von den Dingen zu erzählen, die sie erlebt hatte. Es würde noch schwerer sein über die Dinge zu reden, die sie getan hatte.

“Ich denke nicht”, sagte sie schärfer als beabsichtigt. Riley konnte sehen, wie Blaine sich versteifte und musste einsehen, dass ihr Ton recht unhöflich gewesen war.

Er ließ die Schultern fallen und sagte, “Verzeihung. Ich wollte Ihnen kein Unbehagen bereiten.”

Sie unterhielten sich noch eine Weile, aber Riley war bewusst, dass ihr neuer Nachbar deutlich reservierter war, als am Anfang. Nachdem er sich höflich verabschiedet hatte, schloss Riley die Tür hinter ihm und seufzte. Ihr wurde klar, dass sie sich so nicht beliebt machen konnte. Die Frau, die ein neues Leben anfangen wollte, war immer noch die gleiche alte Riley.

Aber sie sagte sich selbst, dass das im Moment kaum etwas ausmachte. Eine Trostbeziehung war das letzte, was sie gerade brauchte. In ihrem Leben musste einiges geordnet werden und sie fing gerade erst an, Fortschritte in diese Richtung zu machen.

Trotzdem war es nett gewesen, sich einige Minuten mit einem attraktiven Mann zu unterhalten und eine Erleichterung endlich Nachbarn zu haben - und so nette noch dazu.



*



Als Riley und April sich zum Abendessen an den Tisch setzten, konnte April die Finger nicht von ihrem Smartphone lassen.

“Bitte hör auf zu texten”, sagte Riley. “Nicht beim Essen.”

“Gleich, Mom”, sagte April. Sie tippte weiter auf ihrem Handy.

Mittlerweile war Riley von Aprils Teenagerverhalten nur noch leicht genervt. Wenn sie ehrlich war, hatte es auch seine guten Seiten. April machte in diesem Jahr große Fortschritte in der Schule und fand neue Freunde. Soweit es Riley betraf, waren diese auch deutlich angenehmer, als die Kinder, mit denen April sich vorher getroffen hatte. Riley nahm an, dass April gerade einem Jungen schrieb, an dem sie interessiert war. Bisher hatte April ihn allerdings nicht erwähnt.

April hörte auf zu texten, als Gabriela mit einem Tablett Chiles Rellenos aus der Küche kam. Als sie die dampfenden, köstlich gefüllten Paprika auf den Küchentisch stellte, kicherte April schelmisch.

“Scharf genug, Gabriela?” fragte sie.

“Sí”, kicherte Gabriela ebenfalls.

Es war ein Running Gag zwischen den dreien. Ryan hatte Gerichte verabscheut, die zu scharf waren. Tatsächlich konnte er sie kaum essen. Wohingegen April und Riley nach dem Mott lebten je schärfer, desto besser. Gabriela musste sich nicht länger zurückhaltend - oder zumindest nicht so sehr wie früher. Riley bezweifelte, dass April oder sie die Schärfe von Gabrielas originalen Gerichten aus Guatemala verkraften könnten.

Nachdem Gabriela das Essen verteilt hatte, sagte sie, “Der Mann war guapo, nicht wahr?”

Riley spürte, wie sie rot wurde. “Gutaussehend? Das war mir gar nicht aufgefallen, Gabriela.”

Die Haushälterin lachte laut auf. Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch und fing an, eine kleine Melodie zu summen. Riley nahm an, dass es sich um ein guatemalisches Liebeslied handelte. April starrte ihre Mutter an.

“Was für ein Mann, Mom?” fragte sie.

“Oh, unser Nachbar war kurz hier---”

April unterbrach sie aufgeregt. “Oh mein Gott! War es Crystals Vater? Er war es, oder? Ist der nicht super?”

“Und ich glaube er ist alleinstehend.” warf Gabriela ein.

“Okay, genug ihr zwei”, sagte Riley mit einem Lachen. “Lasst mir ein bisschen Raum zum Atmen. Es ist nicht nötig, dass ihr beide mich mit dem Mann von nebenan verkuppelt.”

Sie machten sich Гјber die gefГјllten Paprika her und sie waren fast mit dem Essen fertig, als Riley ihr Handy vibrieren spГјrte.

Verdammt, dachte sie. Ich hätte es nicht mit an den Tisch nehmen sollen.

Das Vibrieren hörte nicht auf. Sie konnte es nicht weiter ignorieren. Seit sie nach Hause gekommen war, hatte Brent Meredith ihr noch zwei weitere Nachrichten hinterlassen und sie hatte sich jedes Mal gesagt sie würde ihn später zurückrufen. Jetzt ließ es sich nicht länger hinauszögern. Sie entschuldigte sich und stand auf, um den Anruf anzunehmen.

“Riley, es tut mir leid Sie so zu überfallen”, sagte ihr Chef. “Aber ich brauche wirklich Ihre Hilfe.”

Riley war überrascht, dass Meredith sie beim Vornamen nannte. Das war selten. Auch wenn Sie sich ihm sehr nah fühlte, sprach er sie normalerweise als Agentin Paige an. Er legte immer sehr viel Wert auf Formalitäten.

“Worum geht es, Sir?” fragte Riley.

Meredith schwieg fГјr einen Moment. Riley fragte sich, warum er so zurГјckhaltend war. Ihre Stimmung sank. Sie spГјrte, dass es genau die Art von Anruf war, die sie gefГјrchtet hatte.

“Riley, ich möchte Sie um einen persönlichen Gefallen bitten”, sagte er und klang dabei weitaus weniger bestimmend als üblich. “Ich wurde gebeten einen Mord in Phoenix untersuchen zu lassen.”

Riley war überrascht. “Einen einzelnen Mord?” hakte sie nach. “Warum ist dafür das FBI nötig?”

“Ich habe einen alten Freund in der Außenstelle in Phoenix”, sagte Meredith. “Garrett Holbrook. Wir sind zusammen auf die Akademie gegangen. Seine Schwester Nancy war das Opfer.”

“Das tut mir leid”, sagte Riley. “Aber die örtliche Polizei …”

In Merediths Stimme hörte sie eine seltene, flehende Note.

“Garrett braucht unsere Hilfe. Sie war eine Prostituierte. Sie ist einfach verschwunden und dann ist ihre Leiche in einem See gefunden worden. Er möchte, dass wir den Mord als die Arbeit eines Serienmörders betrachten.”

Diese Bitte erschien Riley seltsam. Prostituierte verschwanden oft, ohne dass sie getötet wurden. Manchmal entschieden sie sich einfach an anderer Stelle zu arbeiten. Oder die Arbeit hinter sich zu lassen.

“Hat er Grund zu der Annahme?” fragte sie.

“Ich weiß es nicht”, sagte Meredith. “Vielleicht will er das nur denken, um uns in den Fall zu ziehen. Aber wie Sie wissen, sind Prostituierte häufig Ziel von Serienmördern.”

Riley wusste, dass das stimmte. Der Lebensstil von Prostituierten machten sie zu einem leichten Ziel. Sie waren sichtbar und zugänglich, alleine mit Fremden und oft drogenabhängig.

Meredith fuhr fort, “Er hat mich persönlich angerufen. Ich habe ihm versprochen meine besten Leute nach Phoenix zu schicken. Und natürlich schließt Sie das ein.”

Riley war gerГјhrt. Meredith machte es ihr nicht einfach Nein zu sagen.

“Bitte haben Sie Verständnis, Sir”, sagte sie. “Ich kann gerade einfach keinen neuen Fall annehmen.”

Riley fühlte sich leicht unbehaglich. Kann nicht oder will nicht? fragte sie sich selbst. Nachdem sie von einem Serienmörder entführt und gefoltert worden war, hatten alle darauf bestanden, dass sie Urlaub nahm. Sie hatte es versucht, aber konnte sich nicht von ihrem Job losreißen. Jetzt fragte sie sich, warum sie so verzweifelt darum bemüht gewesen war neue Fälle anzunehmen. Sie war waghalsig und selbstzerstörerisch gewesen und hatte die Kontrolle über ihr Leben verloren. Nachdem sie Peterson getötet hatte, ihren Peiniger, dachte sie, dass alles gut wäre. Aber sie wurde immer noch davon verfolgt und hatte neue Probleme mit der Lösung des letzten Falles.

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu, “Ich brauche mehr Zeit. Ich bin immer noch beurlaubt und versuche wirklich mein Leben in den Griff zu bekommen.”

Ein langes Schweigen folgte. Es klang nicht, als wГјrde Meredith versuchen mit ihr darГјber zu diskutieren oder ihr einen Befehl zu geben. Aber er wГјrde ihr auch nicht sagen, dass es fГјr ihn in Ordnung war. Er wГјrde den Druck nicht von ihr nehmen.

Sie hörte Meredith lange und traurig seufzen. “Garrett und Nancy waren seit Jahren entfremdet. Das, was ihr jetzt passiert ist, frisst ihn innerlich auf. Ich nehme an, dass darin eine Lektion zu lernen ist. Man sollte niemanden in seinem Leben als selbstverständlich ansehen. Nie den Kontakt verlieren.”

Riley fiel fast das Telefon aus der Hand. Meredith hatte einen Nerv getroffen, der seit langem unberГјhrt geblieben war. Riley hatte vor Jahren den Kontakt mit ihrer Schwester verloren. Sie waren entfremdet und sie hatte schon lange nicht mehr an Wendy gedacht. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Schwester gerade tat.

Nach einer weiteren Pause sagte Meredith, “Versprechen Sie mir, dass Sie darüber nachdenken.”

“Das werde ich”, erwiderte Riley.

Sie beendete den Anruf.

Sie fühlte sich fürchterlich. Meredith hatte ihr durch schwere Zeiten geholfen und es war das erste Mal, dass er ihr gegenüber Verletzlichkeit zeigte. Sie hasste es, ihn zu enttäuschen. Und sie hatte ihm gerade versprochen darüber nachzudenken.

Und auch wenn sie es unbedingt wollte, war Riley sich nicht sicher, dass sie nein sagen konnte.




Kapitel Drei


Der Mann saß in seinem Wagen auf dem Parkplatz und beobachtete die Nutte, die die Straße entlang ging. “Chiffon”, nannte sie sich. Offensichtlich nicht ihr richtiger Name. Und er war sich sicher, dass es noch eine Menge gab, was er nicht über sie wusste.

Ich könnte sie allerdings dazu bringen es mir zu sagen, dachte er. Aber nicht hier. Nicht heute.

Er würde sie heute auch nicht töten. Nein, nicht genau hier, so nah an ihrem üblichen Arbeitsplatz - dem sogenannten “Kinetic Custom Gym.” Von seinem Blickwinkel aus konnte er die altersschwachen Geräte im Schaufenster sehen - drei Laufbänder, eine Rudermaschine, und ein paar Gewichtstrainingsgeräte, von denen keine funktionierte. Soweit er wusste, kam niemand her, um wirklich zu trainieren.

Zumindest nicht auf die Гјbliche Art und Weise, dachte er mit einem Grinsen.

Er kam nicht oft her - nicht seit der Brünetten, die hier vor Jahren gearbeitet hatte. Natürlich hatte er sie nicht hier getötet. Er hatte sie für “Extra Service” und mit dem Versprechen von viel Geld in ein Motelzimmer gelockt.

Selbst da war es noch kein vorsätzlicher Mord gewesen. Die Plastiktüte über ihrem Kopf war nur eine Fantasie gewesen, um dem Ganzen ein Gefühl von Gefahr zu geben. Aber nachdem es vorbei gewesen war, hatte ihn das Gefühl tiefer Befriedigung überrascht. Es war höchster Genuss gewesen, einzigartig selbst in seinem Leben voller Genüsse.

Trotzdem hatte er in seinen Rendezvous seither mehr Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen. Oder zumindest hatte er das bis zur letzten Woche, als das gleiche Spiel mit einem Callgirl wieder tödlich ausgegangen war – wie war noch gleich ihr Name?

Oh, ja, erinnerte er sich. Nanette.

Er hatte vermutet, dass Nanette nicht ihr richtiger Name war. Jetzt wГјrde er es nie herausfinden. Tief in seinem Herzen wusste er, dass ihr Tod kein Unfall gewesen war. Nicht wirklich. Er hatte es tun wollen. Und sein Gewissen war unbefleckt. Er war bereit es wieder zu tun.

Die, die sich selber Chiffon nannte, kam ihm etwa einen halben Block entfernt entgegen. Sie trug ein gelbes Top und einen kaum vorhandenen Rock und stöckelte auf unglaublich hohen Schuhen in Richtung Fitnessstudio, während sie telefonierte.

Er wollte unbedingt wissen, ob Chiffon ihr richtiger Name war. Ihr bisher einziges Treffen war ein Fehlschlag gewesen - ihre Schuld, nicht seine, dessen war er sich sicher. Etwas an ihr hatte ihn abgestoГџen.

Er wusste, dass sie älter war, als sie vorgab. Es war mehr als nur ihr Körper - selbst Nutten im Teenageralter hatten oft Schwangerschaftsstreifen von der einen oder anderen Geburt. Und es waren auch nicht die Falten in ihrem Gesicht. Nutten alterten deutlich schneller, als alle anderen Frauen, die er kannte.

Er konnte nicht genau sagen warum. Aber es gab viel an ihr, was ihn verwirrte. Sie zeigte eine Art mädchenhaften Enthusiasmus, der nicht das Zeichen einer wahren Professionellen war - nicht einmal das einer Anfängerin.

Sie kicherte zu viel, als würde sie ein Spiel spielen. Sie war zu eifrig. Und er vermutete sogar, dass sie seltsamerweise ihren Job tatsächlich zu mögen schien.

Eine Nutte, die Spaß an dem Sex hat, dachte er, während er sie näherkommen sah. Wer hat so was schon mal gehört?

Wenn er ehrlich war, dann törnte es ihn ab.

Wenigstens war er sich sicher, dass sie keine verdeckte Ermittlerin war. Das hätte er sofort bemerkt.

Als sie nah genug war, um ihn zu sehen, drückte er auf die Hupe. Sie hielt einen Moment inne, sah in seine Richtung und schirmte ihre Augen von der Sonne ab. Als sie sah, wer es war, winkte sie und lächelte - ein Lächeln, das für alle Welt völlig aufrichtig aussehen musste.

Dann ging sie auf die Rückseite des Fitnessstudios zum “Mitarbeiter” Eingang. Ihm wurde klar, dass sie wahrscheinlich eine Verabredung in dem Puff hatte. Es machte nichts aus, er würde sie ein andermal nehmen, wenn ihm nach einer anderen Art von Vergnügen war. In der Zwischenzeit gab es hier genug andere Nutten.

Er erinnerte sich daran, wie sie das letzte Mal auseinander gegangen waren. Sie war fröhlich gewesen und freundlich und entschuldigend.

“Komm jederzeit wieder”, hatte sie ihm gesagt. “Das nächste Mal wird es besser. Wir verstehen uns dann bestimmt besser. Das wird dann wirklich anregend.”

“Oh Chiffon”, murmelte er laut. “Du hast ja keine Ahnung.”




Kapitel Vier


Der Lärm von Schüssen hallte um Riley herum. Zu ihrer Linken hörte sie das laute Krachen einer Pistole. Zu ihrer Rechten war schwerere Artillerie zu hören - Schüsse von Sturmgewehren und das Stakkato von Maschinenpistolen.

Mitten in dem Toben zog sie die Glock aus ihrem HГјftholster, nahm eine Bauchlage ein und feuerte sechs Kugeln. Dann richtete sie sich in eine kniende Position auf und feuerte dreimal. Sie lud schnell und geschickt nach, stand dann auf und feuerte sechs Kugeln, wonach sie zurГјck auf ein Knie fiel und drei weitere Kugeln mit der linken Hand feuerte.

Sie stand auf, holsterte ihre Waffe, trat dann von der Feuerlinie zurГјck und zog ihre OhrschГјtzer und die Schutzbrille ab. Das Ziel war etwa 23 Meter entfernt. Auch aus der Distanz konnte sie sehen, dass all ihre SchГјsse gut zentriert waren. Auf benachbarten Linien Гјbten FBI Akademie Studenten unter der Aufsicht ihrer Ausbilder.

Es war eine Weile her, das Riley ihre Waffe abgefeuert hatte, auch wenn sie in ihrem Job immer bewaffnet war. Sie hatte einen Platz auf dem SchieГџГјbungsplatz der FBI Akademie fГјr ZielГјbungen reserviert und wie immer war da etwas seltsam Befriedigendes an dem machtvollen RГјckstoГџ der Waffe, ihrer rohen Gewalt.

Sie hörte eine Stimme hinter sich.

“Die alte Schule, was?”

Sie sah sich um und entdeckte Spezialagent Bill Jeffreys nicht weit von sich mit einem breiten Grinsen. Sie lächelte zurück. Riley wusste genau, was er mit “alter Schule” meinte. Vor einigen Jahren hatte das FBI die Regeln der Schusswaffenqualifikation für Handwaffen geändert. Aus der Bauchlage heraus zu feuern war nun nicht mehr verlangt. Der Schwerpunkt lag mittlerweile darauf Ziele auf kurze Distanz, zwischen zweieinhalb und sechseinhalb Metern, zu treffen. Unterstützt wurde das durch die Virtuelle-Realität-Installation, in der Agenten Szenarios üben konnten, die bewaffnete Konfrontationen in engen Räumen simulierten. Und die Anwärter wurden alle durch die notorische Hogan's Alley geschickt, eine vier Hektar große, künstliche Stadt, in der sie Terroristen mit Paintball-Waffen bekämpften.

“Manchmal mag ich die alte Schule”, sagte sie. “Es ist doch gut möglich, dass ich auch auf Distanz tödliche Gewalt anwenden muss.”

Aus eigener Erfahrung wusste Riley, dass die Realität oft persönlich, sehr nah und häufig unerwartet war. Tatsächlich hatte sie in den letzten beiden Fällen mit den Händen kämpfen müssen. Sie hatte einen Angreifer mit seinem eigenen Messer und den anderen mit einem Stein getötet.

“Denkst du irgendetwas kann diese Kinder für das wahre Leben vorbereiten?” fragte Bill, der in Richtung der Studenten nickte, die gerade den Übungsplatz verließen.

“Nicht wirklich”, sagte Riley. “In der virtuellen Realität akzeptiert dein Gehirn das Szenario als Realität, aber es gibt keine unmittelbar bevorstehende Gefahr, keinen Schmerz, keine Wut zu kontrollieren. Etwas in einem weiß immer, dass nicht die Gefahr besteht getötet zu werden.”

“Richtig”, sagte Bill. “Das werden sie auf die gleiche Weise herausfinden müssen wie wir vor Jahren.”

Riley warf ihm einen Seitenblick zu, als sie sich weiter zum SchieГџstand wegbewegten.

Wie sie, war auch er vierzig Jahre alt und sein Haar mit Grau durchzogen. Sie fragte sich, was es zu bedeuten hatte, dass sie ihn insgeheim mit ihrem schlankeren, schmächtigeren Nachbarn verglich.

Wie hieГџ er noch? Oh, ja - Blaine.

Blaine war gutaussehend, aber sie war sich nicht sicher, ob er Bill das Wasser reichen konnte. Bill war groГџ, solide, und Г¤uГџerst attraktiv.

“Was bringt dich her?” fragte sie.

“Ich habe gehört, dass du hier bist”, erwiderte er.

Riley sah ihn unbehaglich an. Das war wahrscheinlich nicht nur ein freundschaftlicher Besuch. Sein Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er noch nicht bereit war, ihr zu sagen, weshalb er wirklich gekommen war.

Bill sagte, “Wenn du den ganzen Drill machen willst, dann nehme ich für dich die Zeit.”

“Das wäre lieb”, lächelte Riley.

Sie gingen zu einem abgetrennten Bereich des Übungsplatzes, wo sie nicht Gefahr lief von Irrläufern der Studenten getroffen zu werden.

Während Bill die Stoppuhr bediente, durchlief Riley alle Stufen der FBI Schusswaffenqualifikation: Feuern auf ein Ziel von zweieinhalb, dann viereinhalb, dann siebeneinhalb, dann dreizehneinhalb Metern. Die fünfte und letzte Position war die einzige die ihr keinerlei Probleme bereitete - aus ca. 23 Metern, hinter einer Barrikade hervor, auf ein Ziel feuern.

Nachdem sie alle Stufen durchlaufen hatte, nahm Riley ihre Schutzausrüstung ab. Sie und Bill gingen zum Ziel und überprüften die Arbeit. Alle Einschläge waren eng beieinander.

“Hundert Prozent - Perfektes Ergebnis”, sagte Bill.

“Das sollte es auch sein”, sagte Riley. Sie hasste es, wenn sie einrostete.

Bill zeigte in Richtung des erdigen Kugelfangs hinter dem Ziel.

“Irgendwie surreal, was?” meinte er nachdenklich.

Hinter dem Übungsplatz grasten einige Rehe friedlich auf dem Hügel. Sie hatten sich dort eingefunden, während sie auf die Zielscheibe schoss. Selbst mit ihrer Pistole waren sie in einfacher Schussweite. Aber sie schienen nicht im Mindesten von den Tausenden Kugeln gestört zu sein, die in die Ziele unter dem Ausläufer einschlugen, auf dem sie grasten.

“Ja”, sagte sie, “und schön.”

Zu dieser Jahreszeit konnte man die Rehe auf dem Übungsplatz häufig sehen. Es war Jagdsaison und aus irgendeinem Grund schienen sie zu wissen, dass sie hier sicher waren. Tatsächlich war das Gelände der FBI Akademie eine Art Zufluchtsort für verschiedene Tiere geworden, wie Füchse, wilde Truthähne und Murmeltiere.

“Vor ein paar Tagen hat einer meiner Studenten einen Bären auf dem Parkplatz gesehen”, sagte Riley.

Sie machte drei Schritte in Richtung des Hügels. Die Rehe hoben ihre Köpfe, starrten sie an und trotteten davon. Sie hatten keine Angst vor Schüssen, aber sie wollten Menschen nicht zu nah in ihre Nähe lassen.

“Was glaubst du, woher sie das wissen?” fragte Bill. “Dass sie hier sicher sind, meine ich. Klingen nicht alle Waffen gleich?”

Riley schüttelte einfach den Kopf. Es war ihr ein Rätsel. Ihr Vater hatte sie mit auf die Jagd genommen, als sie noch klein war. Für ihn waren Rehe nur eine Ressource für Essen und Fell. Damals hatte es ihr nichts ausgemacht sie zu töten. Aber das hatte sich geändert.

Es schien ihr seltsam, jetzt, wo sie darüber nachdachte. Sie hatte kein Problem damit, tödliche Gewalt gegen einen Menschen einzusetzen, wenn es notwendig war. Sie konnte einen Mann ohne mit der Wimper zu zucken töten. Aber eine dieser vertrauensvollen Kreaturen zu töten schien ihr jetzt undenkbar.

Riley und Bill gingen zum nächstgelegenen Pausenbereich und setzten sich zusammen auf eine Bank. Bill schien immer noch zu zögern mit der Sprache herauszurücken.

“Wie geht es dir?” fragte sie mit sanfter Stimme.

Sie wusste, dass es ein schwieriges Thema war und sie sah ihn zusammenzucken. Seine Frau hatte ihn vor kurzem verlassen, nach Jahren der Spannung zwischen seiner Arbeit und seinem Familienleben. Bill hatte sich Sorgen gemacht, dass er den Kontakt mit seinen jungen Söhnen verlieren würde. Jetzt lebte er in einem Apartment in der Stadt Quantico und verbrachte Zeit mit seinen Jungs am Wochenende.

“Ich weiß nicht, Riley”, sagte er. “Ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde.”

Es war offensichtlich, dass er einsam und deprimiert war. Sie hatte das gleiche durchgemacht, während ihrer Trennung und Scheidung. Sie wusste auch, dass die Zeit nach einer Trennung besonders schmerzhaft war. Selbst wenn die Beziehung nicht besonders gut gewesen war, fand man sich plötzlich in einer Welt von Fremden, vermisste Jahre der Vertrautheit und wusste nicht richtig, was man mit sich selber anfangen sollte.

Bill berührte ihren Arm. Seine Stimme war voller Emotionen, als er sagte, “Manchmal denke ich, dass alles, was ich noch in meinem Leben habe … du bist.”

Riley war versucht ihn in den Arm zu nehmen. In ihren Jahren der Partnerschaft, hatte Bill sie mehr als einmal gerettet, sowohl physisch als auch emotional. Aber sie wusste, dass sie vorsichtig sein musste. Und sie wusste, dass Menschen in einer solchen Zeit recht verrückte Dinge taten. Sie war diejenige gewesen, die Bill eines Nachts betrunken angerufen und ihm eine Affäre vorgeschlagen hatte. Jetzt war die Situation umgekehrt. Sie konnte sein Gefühl der Abhängigkeit von ihr spüren, gerade jetzt, wo sie anfing sich frei und stark genug zu fühlen alleine zurechtzukommen.

“Wir waren gute Partner”, sagte sie. Es war lahm, aber ihr fiel nichts anderes ein.

Bill atmete tief durch.

“Deshalb wollte ich mir dir reden”, sagte er. “Meredith hat mir gesagt, dass er mit dir über den Phoenix Fall gesprochen hat. Ich arbeite daran. Ich brauche einen Partner.”

Riley fing an leicht gereizt zu sein. Bills Besuch erschien ihr immer mehr wie eine Art Гњberfall.

“Ich habe Meredith gesagt, dass ich darüber nachdenke”, sagte sie.

“Und jetzt frage ich dich”, sagte Bill.

Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.

“Was ist mit Lucy Vargas?” fragte Riley.

Agentin Vargas war eine Anfängerin, die im letzten Fall eng mit Bill und Riley zusammengearbeitet hatte. Sie waren beide von ihrer Arbeit beeindruckt gewesen.

“Ihr Knöchel ist noch nicht verheilt”, sagte Bill. “Sie braucht noch mindestens einen Monat, bis sie wieder im Außendienst ist.”

Riley bereute gefragt zu haben. Als sie, Bill, und Lucy Eugene Fisk, den sogenannten “Ketten-Mörder”, in die Ecke gedrängt hatten, war Lucy in seine Fänge geraten und fast gestorben, nachdem sie gefallen war und sich den Knöchel gebrochen hatte. Natürlich war sie noch nicht wieder einsatzfähig.

“Ich weiß nicht, Bill”, sagte Riley. “Diese Pause vom Außendienst ist wirklich gut für mich. Ich habe darüber nachgedacht ab jetzt einfach nur zu unterrichten. Alles, was ich dir sagen kann, ist das gleiche, was ich Meredith gesagt habe.”

“Dass du darüber nachdenkst.”

“Richtig.”

Bill grunzte unzufrieden.

“Können wir uns wenigstens zusammensetzen und darüber reden?” fragte er. “Vielleicht Morgen?”

Riley schwieg fГјr einen Moment.

“Nicht morgen”, sagte sie dann. “Morgen muss ich einen Mann sterben sehen.”




Kapitel FГјnf


Riley sah durch das Fenster in den Raum, in dem Derrick Caldwell bald sterben wГјrde. Sie saГџ neben Gail Bassett, der Mutter von Kelly Sue Bassett, Caldwells letztem Opfer. Der Mann hatte fГјnf Frauen ermordet, bevor Riley ihn stoppen konnte.

Riley hatte gezögert Gails Einladung zu der Hinrichtung anzunehmen. Sie war Gail nur einmal begegnet, damals als freiwillige Zeugin, zwischen den Reportern, Anwälten und Gerichtsdienern. Jetzt saßen sie und Gail unter neun Angehörigen von Frauen, die Caldwell getötet hatte, alle von ihnen zusammen in einem engen Raum, auf weißen Plastikstühlen.

Gail, eine kleine sechzig Jahre alte Frau mit feinen, eleganten GesichtszГјgen, hatte Гјber die Jahre den Kontakt mit Riley aufrechterhalten. Bevor die Hinrichtung festgelegt wurde, war ihr Mann gestorben und sie hatte Riley geschrieben, dass sie niemanden hatte, der sie durch diesen schweren Moment begleiten konnte. Also hatte Riley zugestimmt, sie zu begleiten.

Die Todeskammer war direkt dort auf der anderen Seite des Fensters. Das einzige Möbelstück in diesem Raum war die kreuzförmige Hinrichtungsliege. Ein blauer Plastikvorhang hing am Ende der Liege. Riley wusste, dass dahinter die Infusionsröhren und tödlichen Chemikalien aufbewahrt wurden.

Ein rotes Telefon hing an der Wand, das mit dem BГјro des Gouverneurs verbunden war. Es wГјrde nur im Fall einer Begnadigung in letzter Minuten klingeln. Niemand erwartete an diesem Tag einen Anruf. Eine Uhr Гјber der TГјr war die einzige sichtbare Dekoration.

In Virginia konnten verurteilte Verbrecher sich zwischen dem elektrischen Stuhl und einer Giftspritze entscheiden, aber die Chemikalien wurden weitaus häufiger ausgewählt. Wenn der Häftling keine Entscheidung traf, wurde ihm die Giftspritze zugeteilt.

Riley war fast Гјberrascht, dass Caldwell sich nicht fГјr den elektrischen Stuhl entschieden hatte. Er war ein reueloses Monster, das den eigenen Tod willkommen zu heiГџen schien.

Es war 8:55 Uhr als sich die Tür öffnete. Riley hörte das stille Murmeln, das durch den Raum ging, als mehrere Mitglieder des Hinrichtungsteams Caldwell in die Kammer brachten. Zwei Wärter hatten jeweils einen seiner Arme gepackt, ein anderer ging hinter ihm. Ein gut gekleideter Mann trat als letztes ein – der Gefängnisdirektor.

Caldwell trug blaue Hosen, ein blaues Arbeitshemd und Sandalen ohne Socken. Er trug Hand- und Fußfesseln. Riley hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Während seiner Zeit als Serienmörder waren seine Haare lang und sein Bart struppig, ein passender Look für einen Straßenkünstler. Jetzt war er glatt rasiert und sah geradezu gewöhnlich aus.

Auch wenn er sich nicht wehrte, sah er verängstigt aus.

Gut, dachte Riley.

Er sah auf die Liege und dann schnell wieder weg. Er schien zu versuchen nicht auf den blauen Plastikvorhang zu blicken. FГјr einen Moment starrte er in den Zuschauerraum. Das schien ihn ruhiger und gefasster zu machen.

“Ich wünschte er könnte uns sehen”, murmelte Gail.

Sie wurden durch Einwegglas abgeschirmt und Riley teilte Gails Wunsch nicht. Caldwell hatte sie so schon eingehender betrachtet, als ihr lieb war. Um ihn zu fassen, hatte sie verdeckt ermittelt. Sie hatte vorgegeben ein Tourist zu sein und ihn dafür bezahlt ihr Porträt anzufertigen. Während er arbeitete hatte er sie mit Komplimenten überschüttet, ihr gesagt, dass sie die schönste Frau war, die er seit langem gezeichnet hatte.

In dem Moment hatte sie gewusst, dass sie sein nächstes Opfer sein würde. An diesem Abend hatte sie als Beute gedient, um ihn aus seinem Versteck zu locken. Als er versucht hatte sie anzugreifen, waren ihr die anderen Agenten sofort zur Hilfe geeilt.

Seine Gefangennahme war ohne Probleme verlaufen. Die Entdeckung, dass er seine Opfer zerteilt und in seiner Gefriertruhe aufbewahrt hatte, war eine andere Sache. Vor der geöffneten Gefriertruhe zu stehen war einer der grauenvollsten Momente ihrer Karriere gewesen. Sie fühlte immer noch Mitleid mit den Familien der Opfer – unter anderem Gail – für die grausige Aufgabe ihre zerteilten Familienmitglieder zu identifizieren.

“Zu schön, um zu leben”, hatte er sie genannt.

Es hatte Riley zutiefst erschüttert, dass er sie genauso wie diese Frauen gesehen hatte. Sie hatte sich nie für schön gehalten und Männer – selbst ihr Exmann Ryan – hatten ihr selten gesagt, dass sie es sei. Caldwell war eine schreckliche Ausnahme.

Was hatte es zu bedeuten, dachte sie, dass ein pathologisches Monster sie so perfekt fand? Hatte er in ihr etwas erkannt, das genauso monströs war wie er? Noch Jahre nach der Gerichtsverhandlung und dem Urteil plagten sie Albträume, in denen sie seine bewundernden Augen sah, die honigsüßen Worte hörte und vor der Gefriertruhe mit den Leichenteilen stand.

Das Hinrichtungsteam half Caldwell auf die Hinrichtungsliege, entfernte die Hand- und Fußfesseln, zog ihm die Sandalen aus und band ihn fest. Ledergurte hielten ihn auf der Liege – zwei über der Brust, zwei für die Beine, zwei für die Knöchel und zwei für die Handgelenke. Seine nackten Füße zeigten in Richtung des Fensters. Es war schwer sein Gesicht zu sehen.

Plötzlich wurden die Vorhänge vor dem Fenster zum Zuschauerraum geschlossen. Riley verstand, dass er dafür da war, die Phase der Hinrichtung zu verstecken, in der am meisten schief gehen konnte – wie etwa, dass das Team keine passende Vene fand. Trotzdem erschien es ihr seltsam. Die Leute im Zuschauerraum waren kurz davor Caldwell sterben zu sehen, aber sie durften nicht zusehen, wie so etwas Banales wie eine Nadel in seinen Arm gestochen wurde. Der Vorhang bewegte sich leicht, offensichtlich durch eine Bewegung von einem der Helfer auf der anderen Seite.

Als der Vorhang sich wieder öffnete, waren die Infusionsleitungen angebracht und liefen durch Löcher in dem blauen Plastikvorhang in den Arm des Häftlings. Zwei Mitglieder des Hinrichtungsteams standen hinter dem Plastikvorhang, wo sie die tödlichen Chemikalien einlassen würden.

Ein Mann hielt den roten Telefonhörer, bereit einen Anruf zu erhalten, der nicht kommen würde. Ein anderer sprach mit Caldwell, seine Worte über die schlechte Soundanlage kaum vernehmbar. Er fragte Caldwell, ob er noch irgendwelche letzten Worte hatte.

Im Gegensatz dazu erklang Caldwells Antwort laut und klar.

“Ist Agentin Paige hier?” fragte er.

Seine Worte sandten einen Schock durch Riley.

Der Wärter antwortete nicht. Es war keine Frage auf dessen Antwort Caldwell ein Recht hatte.

Nach einem angespannten Schweigen, sprach Caldwell wieder.

“Sagen Sie Agentin Paige, ich wünschte meine Kunst hätte ihr gerecht werden können.”

Auch wenn Riley sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte, dachte sie, dass sie ihn kichern hörte.

“Das ist alles”, sagte er. “Ich bin bereit.”

Riley wurde von Wut, Entsetzen und Verwirrung Гјberrollt. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte. Derrick Caldwell hatte sich entschieden seinen letzten Moment ihr zu widmen. Und hier, hinter dem unzerbrechlichen Glas sitzend, konnte sie nichts dagegen tun.

Sie hatte ihn geschnappt, aber am Ende hatte er eine seltsame, kranke Art von Rache erhalten.

Sie fГјhlte, wie Gails kleine Hand ihre eigene packte.

Lieber Gott, dachte Riley. Sie versucht mich zu trösten.

Riley musste gegen eine Welle der Übelkeit ankämpfen.

Caldwell sagte noch etwas.

“Werde ich fühlen, wenn es anfängt?”

Wieder erhielt er keine Antwort. Riley konnte sehen, wie die FlГјssigkeit durch die transparenten Leitungen floss. Caldwell atmete mehrmals tief ein und schien dann einzuschlafen. Sein linker FuГџ zuckte ein paar Mal und erstarrte dann.

Nach einem Moment zwickte ein Wärter die beiden nackten Füße, was keine Reaktion auslöste. Es schien eine sonderbare Geste zu sein. Aber Riley wurde klar, dass der Wärter nur sicherstellte, dass die Betäubung wirkte und Caldwell bewusstlos war.

Der Wärter rief den Leuten hinter dem Plastikvorhang etwas zu. Riley sah erneut, wie eine Flüssigkeit durch die Leitungen floss. Sie wusste, dass eine zweite Chemikalie jetzt dabei war seine Lungen anzuhalten. Nach einer Weile würde die dritte Chemikalie sein Herz stoppen.

Während Caldwells Atem langsamer wurde, dachte Riley darüber nach, was sie gerade sah. Wie unterschied es sich von all den Malen, in denen sie selbst tödliche Gewalt hatte anwenden müssen? Für ihre Arbeit hatte sie mehrere Mörder getötet.

Aber das hier war nicht wie diese anderen Male. Im Vergleich war es auf bizarre Weise kontrolliert, sauber, klinisch und makellos. Es schien ihr unerklärlich falsch zu sein. Irrationaler Weise dachte Riley, Ich hätte es nicht dazu kommen lassen sollen.

Sie wusste, dass sie damit nicht Recht hatte; Caldwells Verhaftung war professionell und nach allen Regeln durchgeführt worden. Aber sie dachte trotzdem, Ich hätte ihn selber töten sollen.

Gail hielt Rileys Hand mit gleicher Kraft zehn Minuten lang fest. Schließlich sagte der Mann neben Caldwell etwas, das Riley nicht hören konnte.

Der Gefängnisdirektor trat nach vorne und sprach klar und laut genug, dass ihn alle Zeugen verstehen konnten.

“Das Urteil wurde erfolgreich um 9:07 Uhr vollstreckt.”

Dann schlossen sich die Vorhänge vor dem Fenster wieder. Die Zuschauer hatten alles gesehen, was sie sehen sollten. Wärter kamen in den Raum und baten alle so schnell wie möglich den Raum zu verlassen.

Als die Gruppe in den Flur trat, nahm Gail wieder Rileys Hand.

“Es tut mir leid, dass er das gesagt hat”, sagte Gail.

Riley war Гјberrascht. Wie konnte Gail sich in so einem Moment Gedanken um Rileys GefГјhle machen. In dem Moment, in dem endlich der Gerechtigkeit fГјr den Mord an ihrer Tochter GenГјge getan wurde.

“Wie geht es Ihnen, Gail?” fragte sie, während sie eilig zum Ausgang gingen.

Gail ging schweigend neben ihr her. Ihr Gesicht war leer.

“Es ist vorbei”, sagte sie schließlich, ihre Stimme kalt und taub. “Es ist vorbei.”

Kurz darauf traten sie zurück ins Tageslicht. Riley konnte zwei Menschenmengen auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen, die jeweils mit Absperrbändern zurückgehalten und von der Polizei strikt kontrolliert wurden. Auf der einen Seite waren die Leute, die für die Hinrichtung waren und Schilder mit hasserfüllten Sprüchen hochhielten, einige davon obszön und profan. Sie waren verständlicherweise guter Stimmung. Auf der anderen Seite waren die Todesstrafengegner mit ihren eigenen Schildern. Sie waren die ganze Nacht hier gewesen und hatten Mahnwache gehalten. Ihre Stimmung war mehr als gedrückt.

Riley konnte für keine der beiden Gruppen viel Sympathie aufbringen. Diese Leute waren nur für sich selber hier, um eine öffentliche Show aus ihrer Wut und Rechtschaffenheit zu machen. Soweit es sie betraf hatten sie kein Recht hier zu sein – nicht unter den Menschen, dessen Trauer und Schmerz zu real waren.

Zwischen dem Eingang und den Menschenmengen war ein Schwarm von Reportern mit Fernsehwagen in der Nähe. Während Riley sich einen Weg bahnte, kam eine Frau, mit Mikrofon in der Hand und Kameramann hinter hier, auf sie zugelaufen.

“Agentin Paige? Sind Sie Agentin Paige?” fragte sie.

Riley antwortete nicht. Sie versuchte sich an der Reporterin vorbei zu drängen.

Die Reporterin ließ sich jedoch nicht abwimmeln. “Wir haben gehört, dass Caldwell Sie in seinen letzten Worten erwähnt hat. Wollen Sie das kommentieren?”

Andere Reporter drängten sich dazu und stellten die gleiche Frage. Riley biss die Zähne zusammen und drückte sich durch die Menge. Endlich konnte sie sich befreien.

Sie eilte zum Auto und dachte über Meredith und Bill nach. Beide hatten sie gedrängt den neuen Fall anzunehmen. Und sie versuchte zu vermeiden einem von ihnen eine Antwort zu geben.

Warum? fragte sie sich.

Sie war gerade vor den Reportern geflohen. Floh sie auch vor Bill und Meredith? Floh sie vor dem, der sie wirklich war? Vor allem, was sie tun musste?



*



Riley war dankbar wieder zu Hause zu sein. Der Tod, den sie an diesem Morgen erlebt hatte, hinterlieГџ ein leeres GefГјhl in ihr und die Fahrt zurГјck nach Fredericksburg war ermГјdend gewesen. Aber als sie die TГјr des Stadthauses Г¶ffnete, schien etwas nicht ganz richtig zu sein.

Es war unnatürlich still. April sollte längst zu Hause sein. Wo war Gabriela? Riley ging in die Küche und fand sie leer. Ein Zettel lag auf dem Küchentisch.

Me voy a la tienda, stand darauf. Gabriela war einkaufen gegangen.

Riley packte die Lehne eines Stuhls, als eine Welle der Panik Гјber sie hereinbrach. Gabriela war einkaufen gewesen, als April vom Haus ihres Vaters entfГјhrt worden war.

Dunkelheit, das Flackern einer Flamme.

Riley wirbelte herum und rannte zur Treppe.

“April”, schrie sie.

Es kam keine Antwort.

Riley rannte nach oben. Niemand war in den Schlafzimmern. Niemand in ihrem kleinen BГјro.

Rileys Herz schlug ihr bis zum Hals, auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass sie albern war. Ihr Körper hörte nicht auf ihren Verstand.

Sie rannte wieder ins Erdgeschoss und raus auf die Terrasse.

“April”, schrie sie.

Aber niemand spielte im Garten nebenan und es waren keine Kinder zu sehen.

Sie musste sich mit Gewalt zusammenreiГџen nicht noch einmal zu schreien. Sie wollte nicht die Nachbarn davon Гјberzeugen, dass sie wirklich verrГјckt war. Noch nicht.

Sie versuchte ungelenk ihr Handy so schnell wie möglich aus der Tasche zu ziehen. Sie schrieb April.

Sie bekam keine Antwort.

Riley ging zurück ins Haus und setzte sich auf die Couch. Ihr Kopf fiel in ihre Hände.

Sie war zurГјck in dem Kriechkeller, lag in der Dunkelheit auf der Erde.

Aber ein kleines Licht kam auf sie zu. Sie konnte sein grausames Gesicht im Schein der Flamme sehen. Aber sie wusste nicht, ob der Mörder für sie oder für April gekommen war.

Riley zwang sich dazu die Vision von ihrer Gegenwart zu trennen.

Peterson ist tot, sagte sie sich immer wieder. Er kann uns nicht mehr quälen.

Sie setzte sich auf und versuchte sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Sie war jetzt hier in ihrem neuen Haus, in ihrem neuen Leben. Gabriela war einkaufen gegangen. April war sicherlich irgendwo in der Nähe.

Ihr Atem wurde langsamer, aber sie konnte sich nicht dazu bringen aufzustehen. Sie hatte Angst, dass sie wieder nach drauГџen laufen und schreien wГјrde.

Es schien Riley, als wäre eine Ewigkeit vergangen, bis sie hörte, wie sich die Haustür öffnete.

April kam singend herein.

Jetzt schaffte Riley es endlich aufzustehen. “Wo zum Teufel bist du gewesen?”

April sah sie erschrocken an.

“Was hast du für ein Problem, Mom?”

“Wo warst du? Warum hast du mir nicht auf meine Nachricht geantwortet?”

“Sorry, ich hatte mein Telefon auf lautlos. Mom, ich war nur drüben bei Cece. Nur auf der anderen Straßenseite. Als wir aus dem Schulbus gestiegen sind, hat ihre Mutter uns ein Eis angeboten.”

“Woher sollte ich wissen, wo du bist?”

“Ich dachte nicht, dass du schon zu Hause bist.”

Riley hörte wie sie schrie, aber sie konnte sich nicht stoppen. “Mir ist egal, was du gedacht hast. Du hast nicht nachgedacht. Du musst mich immer wissen lassen …”

Die Tränen, die April über die Wangen liefen, stoppten sie schließlich.

Riley sog scharf die Luft ein, eilte nach vorne und umarmte ihre Tochter. Zuerst war Aprils Körper steif vor Wut, aber Riley konnte spüren, wie sie sich langsam entspannte. Ihr wurde klar, dass auch ihr selbst Tränen über das Gesicht liefen.

“Es tut mir leid”, sagte Riley. “Es tut mir leid. Es ist nur, wir haben so viel … so viel Schreckliches durchgemacht.”

“Aber das ist jetzt vorbei”, sagte April. “Mom, es ist vorbei.”

Sie setzten sich beide auf die Couch. Es war eine neue Couch, die sie nach ihrem Einzug gekauft hatten. Sie hatte sie fГјr ihr neues Leben gekauft.

“Ich weiß, dass alles vorbei ist”, sagte Riley. “Ich weiß, dass Peterson tot ist. Ich versuche mich daran zu gewöhnen.”

“Mom, es ist jetzt alles so viel besser. Du musst dir nicht wieder jede Sekunde um mich Sorgen machen. Und ich bin kein dummes kleines Kind. Ich bin fünfzehn.”

“Und du bist sehr klug”, sagte Riley. “Ich weiß. Ich muss mich nur selber von Zeit zu Zeit daran erinnern. “Ich liebe dich, April” sagte sie. “Deshalb verhalte ich mich manchmal so seltsam.”

“Ich liebe dich auch, Mom”, sagte April. “Mach dir nur nicht immer so viele Sorgen.”

Riley war froh ihre Tochter wieder lachen zu sehen. April war entführt, gefangen gehalten und mit einer Flamme bedroht worden. Sie schien wieder ein ganz gewöhnlicher Teenager zu sein, auch wenn ihre Mutter Probleme damit hatte, wieder Fuß zu fassen.

Trotzdem fragte Riley sich, ob die dunklen Erinnerungen, die sich in ihrer Tochter versteckten, nur darauf warteten wieder auszubrechen.

Sie selbst wusste, dass sie mit jemandem über ihre eigenen Ängste und wiederkehrenden Albträume reden musste. Und zwar bald.




Kapitel Sechs


Riley rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, während sie darüber nachdachte, was sie Mike Nevins erzählen sollte. Sie war unruhig und nervös.

“Lass dir Zeit”, sagte der forensische Psychiater, der sich in seinem Stuhl nach vorne lehnte und sie besorgt betrachtete.

Riley lachte kläglich. “Das ist das Problem”, sagte sie. “Ich habe keine Zeit. Ich trödele schon länger. Ich muss eine Entscheidung treffen. Ich habe es zu lange hinausgezögert. Hast du mich jemals so unentschlossen gesehen?”

Mike antwortete nicht. Er lächelte einfach und legte die Finger gegeneinander.

Riley war an diese Art von Schweigen gewöhnt. Der adrette, recht penible Mann war über die Jahre viel für sie geworden – ein Freund, ein Therapeut, manchmal sogar eine Art Mentor. Normalerweise rief sie ihn an, wenn sie Einsichten in einen besonders dunklen Verstand brauchte. Aber dieser Besuch war anders. Sie hatte ihn am letzten Abend angerufen und war am Morgen zu seinem Büro in DC gefahren.

“Also, was hast du für Auswahlmöglichkeiten?” fragte er schließlich.

“Nun, ich nehme an, ich muss mich entscheiden, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen will – unterrichten oder ein aktiver Agent sein. Oder etwas vollkommen anderes finden.”

Mike lachte leicht. “Ganz langsam. Lass uns nicht versuchen deine ganze Zukunft an einem Tag zu planen. Schauen wir uns doch lieber das Jetzt an. Meredith und Jeffreys wollen, dass du den Fall annimmst. Nur einen Fall. Das ist weder noch. Niemand sagt, dass du das Unterrichten aufgeben musst. Und alles was du tun musst, ist für diesen einen Fall ja oder nein zu sagen. Also, was ist das Problem?”

Jetzt war es an Riley schweigend nachzudenken. Sie wusste nicht, was ihr Problem war. Deshalb war sie hier.

“Ich nehme an, du hast vor etwas Angst”, sagte Mike.

Riley schluckte hart. Das war es. Sie hatte Angst. Sie hatte sich geweigert es zuzugeben, auch sich selbst gegenГјber. Aber jetzt brachte Mike sie dazu, darГјber zu reden.

“Wovor hast du Angst?” fragte Mike. “Du hast gesagt, du hättest Albträume.”

Riley schwieg noch immer.

“Das wird Teil deines PTBS Problems sein”, sagte Mike. “Hast du immer noch Flashbacks?”

Riley hatte die Frage erwartet. SchlieГџlich hatte Mike mehr als jeder andere fГјr sie getan, um ihr durch das Trauma der besonders schrecklichen Erfahrung zu helfen.

Sie lehnte ihren Kopf gegen die Stuhllehne und schloss die Augen. Für einen Moment war sie wieder in Petersons dunklem Käfig und er bedrohte sie mit einer Propanfackel. Monatelang nach ihrer Gefangenschaft, hatte sich diese Erinnerung ihr immer wieder aufgedrängt.

Aber dann hatte sie Peterson gefunden und ihn selbst getötet. Tatsächlich hatte sie ihn erschlagen.

Wenn das kein Abschluss ist, was dann, dachte sie.

Jetzt schienen ihr die Erinnerungen unpersönlich, als gehörten sie jemand anderem.

“Es geht mir besser”, sagte Riley. “Sie sind kürzer und weniger häufig.”

“Wie geht es deiner Tochter?”

Die Frage traf Riley wie ein Schlag in die Magengrube. Sie fühlte ein Echo von der Panik, die sie erlebt hatte, nachdem Peterson April entführt hatte. Sie konnte immer noch Aprils Hilfeschreie hören.

“Ich nehme an, das habe ich noch nicht hinter mir lassen können”, sagte sie. “Ich wache auf und habe Angst, dass sie entführt wurde. Ich muss in ihr Zimmer gehen, um sicherzustellen, dass sie da ist und es ihr gut geht.”

“Willst du deshalb keinen neuen Fall annehmen?”

Riley erschauderte. “Ich will nicht, dass sie jemals wieder so etwas durchmachen muss.”

“Das ist keine Antwort.”

“Nein, da hast du wohl Recht”, sagte Riley.

Wieder herrschte Stille.

“Ich habe das Gefühl, dass da noch mehr ist”, sagte Mike schließlich. “Was bereitet dir noch Albträume? Was hält dich nachts wach?”

Mit einem Schlag, war der Schrecken, der sich in einer Ecke ihres Gehirns versteckte, wieder da.

Ja, da war etwas anderes.

Selbst mit offenen Augen konnte sie sein Gesicht sehen – Eugene Fisks jungenhaftes, auf groteske Weise unschuldig aussehendes Gesicht mit den kleinen Knopfaugen. Riley hatte ihm bei ihrer letzten Konfrontation tief in diese Augen gesehen.

Der Mörder hatte Lucy Vargas ein Rasiermesser an den Hals gehalten. In diesem Moment erforschte Riley ihre tiefsten Ängste. Sie hatte über die Ketten geredet – diese Ketten, von denen er glaubte, dass sie mit ihm sprachen, ihn dazu zwangen einen Mord nach dem anderen zu verüben, Frauen anzuketten und ihre Kehlen durchzuschneiden.

“Die Ketten wollen nicht, dass du diese Frau nimmst”, hatte Riley ihm gesagt. “Sie ist nicht, was sie brauchen. Du weißt, was die Ketten wirklich brauchen.”

In seinen Augen hatten Tränen geglitzert, als er zustimmend nickte. Dann hatte er sich auf gleiche Weise getötet, wie seine Opfer.

Er hatte sich vor Rileys Augen die Kehle durchgeschnitten.

Und jetzt, hier in Mike Nevins BГјro, erstickte Riley fast an ihrem eigenen Entsetzen.

“Ich habe Eugene getötet”, keuchte sie.

“Den Ketten-Mörder meinst du. Nun, er war nicht der erste Mann, den du getötet hast.”

Das stimmte – sie hatte schon davor einige Male tödliche Gewalt anwenden müssen. Aber bei Eugene war es anders gewesen. Sie dachte oft an seinen Tod, aber hatte bisher noch mit niemandem darüber geredet.

“Ich habe keine Waffe, keinen Stein, nicht meine Fäuste genutzt”, sagte sie. “Ich habe ihn mit Verständnis getötet, mit Mitgefühl. Mein eigener Verstand ist eine tödliche Waffe. Das habe ich nie gewusst. Es macht mir Angst, Mike.”

Mike nickte mitfühlend. “Du weißt, was Nietzsche sagt, über das Blicken in den Abgrund”, sagte er.

“Dass der Abgrund auch in einen selbst hineinblickt”, bestätigte Riley. “Aber ich habe mehr getan, als nur in den Abgrund zu gucken. Ich habe förmlich dort gelebt. Ich habe es mir dort gemütlich gemacht. Es ist mein zweites Zuhause. Das ängstigt mich zu Tode, Mike. Eines Tages gehe ich vielleicht in den Abgrund und komme nicht mehr zurück. Und wer weiß, wen ich dabei verletzte – oder töte.”

“Aha”, sagte Mike und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. “Vielleicht machen wir jetzt Fortschritte.”

Riley war sich nicht so sicher. Und sie hatte nicht das Gefühl einer Entscheidung näher gekommen zu sein.



*



Als Riley kurze Zeit später durch ihre Haustür ging, kam April die Treppe heruntergelaufen, um sie zu begrüßen.

“Mom, du musst mir helfen! Komm schon!”

Riley folgte April die Stufen nach oben. In Aprils Zimmer lag ein Koffer offen auf ihrem Bett und KleidungsstГјcke waren Гјberall verstreut.

“Ich weiß nicht, was ich einpacken soll.” sagte April. “Das musste ich bisher noch nie machen!”

Riley lächelte beim Anblick ihrer gleichzeitig panischen und aufgeregten Tochter und fing sofort an ihr zu helfen. April würde am nächsten Morgen einen Schulausflug beginnen – eine Woche in der Nähe von Washington DC. Sie würde mit der Gruppe ihres Geschichtsunterrichts und einigen Lehrern fahren.

Als Riley die Erlaubnis unterschrieben und die Gebühren für den Ausflug bezahlt hatte, war sie unsicher gewesen. Peterson hatte April in der Nähe von Washington gefangen gehalten und auch wenn sie am entgegengesetzten Ende der Stadt sein würde, hatte Riley Angst, dass die Reise das Trauma an die Oberfläche bringen könnte. Aber April schien es erstaunlich gut zu gehen, sowohl in akademischer Hinsicht, als auch emotionaler. Und die Reise war eine wundervolle Gelegenheit.

Inmitten von scherzhaftem Necken Гјber die Kleiderauswahl, bemerkte Riley, dass sie SpaГџ hatte. Der Abgrund, Гјber den sie und Mike erst kurz vorher gesprochen hatten, schien weit entfernt zu sein. Sie hatte auch auГџerhalb des Abgrundes noch ein Leben. Es war ein gutes Leben und wie auch immer ihre Entscheidung ausfallen wГјrde, sie war entschlossen es auch zu behalten.

Während sich der Koffer langsam füllte, kam Gabriela in den Raum.

“Señora Riley, mein Taxi kommt pronto, jede Minute”, sagte sie lächelnd. “Ich habe gepackt und bin fertig. Meine Koffer stehen neben der Tür.”

Riley hatte fast vergessen, dass auch Gabriela los wollte. Da April unterwegs sein würde, hatte Gabriela um ein paar Urlaubstage gebeten, um ihre Verwandten in Tennessee zu besuchen. Riley hatte fröhlich zugestimmt.

Riley umarmte Gabriela und sagte, “Buen viaje.”

Gabrielas Lächeln wurde schwächer und sie erwiderte, “Me preocupo.”

“Du machst dir Sorgen?” fragte Riley überrascht. “Worüber machst du dir Sorgen, Gabriela?”

“Sie”, sagte Gabriela. “Sie werden ganz alleine in dem neuen Haus sein.”

Riley lachte leicht. “Mach dir keine Sorgen, ich kann auf mich selber aufpassen.”

“Aber Sie waren nicht sola seit so viele schreckliche Dinge passiert sind”, sagte Gabriela. “Ich mache mir Sorgen.”

Gabrielas Worte brachten Riley zum Nachdenken. Sie hatte nicht Unrecht. Seit der Sache mit Peterson war zumindest April immer bei ihr gewesen. Könnte sich ein dunkles und beängstigendes Loch in ihrem neuen Zuhause auftun? Drohte der Abgrund selbst jetzt?

“Es geht mir gut”, sagte Riley. “Geh und habe eine schöne Zeit mit deiner Familie.”

Gabriela grinste und reichte Riley einen Umschlag. “Das war im Briefkasten”, sagte sie.

Gabriela umarmte April, dann noch einmal Riley, und ging nach unten, um auf ihr Taxi zu warten.

“Was ist das, Mom?” fragte April.

“Ich weiß es nicht!” sagte Riley. “Es wurde nicht mit der Post geschickt.”

Sie riss den Umschlag auf und fand eine Plastikkarte darin. Dekorative Buchstaben auf der Karte lasen “Blaine's Grill.” Darunter stand, “Abendessen für Zwei.”

“Ich nehme an, es ist eine Geschenkkarte von unserem Nachbarn”, sagte Riley. “Das ist nett von ihm. Wir können zusammen zum Abendessen hingehen, wenn du wieder da bist.”

“Mom!” schnaufte April. “Er meint nicht dich und mich.”

“Warum nicht?”

“Er lädt dich zum Essen ein.”

“Oh! Glaubst du wirklich? Das steht hier nicht.”

April schüttelte den Kopf. “Sei nicht doof. Der Mann will mit dir ausgehen. Crystal hat mir gesagt, dass ihr Dad dich mag. Und er ist wirklich süß.”

Riley konnte spГјren, wie sie rot wurde. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal jemand zu einer Verabredung eingeladen hatte. Sie war so lange mit Ryan verheiratet gewesen. Seit ihrer Scheidung war sie gezwungen, sich in ihrem neuen Zuhause einzuleben und Entscheidungen Гјber ihre Arbeit zu treffen.

“Du wirst ja ganz rot, Mom”, lachte April.

“Lass uns lieber deine Sachen zusammenpacken”, grummelte Riley. “Ich denke später darüber nach.”

Sie sahen weiter durch Aprils Schrank. Nach ein paar Minuten des Schweigens sagte April, “Ich mache mir auch irgendwie Sorgen um dich, Mom. Wie Gabriela gesagt hat, …”

“Mir geht es gut und das bleibt auch so”, unterbrach Riley.

“Wirklich?”

Riley faltete eine Bluse zusammen und dachte darüber nach, was sie antworten sollte. Sicherlich hatte sie in letzter Zeit schlimmeres erlebt, als ein leeres Haus – darunter mörderische Psychopathen, besessen von Ketten, Puppen und Fackeln. Aber würden sich alte Dämonen melden, wenn sie alleine war? Plötzlich kam ihr die eine Woche wie eine sehr lange Zeit vor. Und die Aussicht entscheiden zu müssen, ob sie mit ihrem Nachbarn ausgehen wollte oder nicht, war auf ihre eigene Weise beängstigend.

Das schaffe ich schon, dachte Riley.

Außerdem hatte sie auch noch eine andere Möglichkeit. Und es war Zeit eine Entscheidung zu treffen.

“Ich wurde gebeten an einem Fall zu arbeiten”, erzählte Riley April. “Dafür müsste ich sofort nach Arizona fliegen.”

April hörte auf ihre Kleidung zusammenzufalten und sah Riley an.

“Also wirst du gehen?” fragte sie.

“Ich weiß es nicht, April”, sagte Riley.

“Was gibt es da zu wissen? Das ist dein Job, oder nicht?”

Riley sah in die Augen ihrer Tochter. Die harten Zeiten zwischen ihnen schienen tatsächlich vorbei zu sein. Seit sie beide die Folter von Peterson überstanden hatten, gab es zwischen ihnen eine ganz neue Verbindung.

“Ich habe darüber nachgedacht, mich aus dem Außendienst zurückzuziehen”, sagte Riley.

Aprils Augen weiteten sich vor Гњberraschung.

“Was? Mom, böse Menschen schnappen ist das, was du am besten kannst.”

“Ich bin auch gut im Unterrichten”, sagte Riley. “Ich bin sehr gut darin. Und ich liebe es. Das tue ich wirklich.”

April sah sie verständnislos an. “Okay, dann geh und unterrichte. Niemand hält dich auf. Aber hör nicht auf den Bösen in den Hintern zu treten. Das ist genauso wichtig.”

Riley schüttelte den Kopf. “Ich weiß nicht, April. Nach allem, was ich dir zugemutet habe…”

April sah aus, als könnte sie nicht glauben, was sie da hörte. “Nach allem, was du mir zugemutet hast? Wovon redest du? Du hast mir gar nichts zugemutet. Ich wurde von einem Psychopathen namens Peterson entführt. Wenn er mich nicht geschnappt hätte, dann jemand anderen. Hör auf, dir dafür die Schuld zu geben.”

Nach einer kurzen Pause, sagte April, “Setz' dich, Mom. Wir müssen reden.”

Riley lächelte und setzte sich auf das Bett. April klang jetzt selber wie eine Mutter.

Vielleicht ist eine kleine elterliche Moralpredigt jetzt genau das, was ich brauche, dachte Riley.

April setzte sich neben Riley.

“Habe ich dir je von meiner Freundin Angie Fletcher erzählt?” fragte April.

“Ich glaube nicht.”

“Wir haben uns eine Weile sehr gut verstanden, aber dann hat sie die Schule gewechselt. Sie war wirklich klug und nur ein Jahr älter als ich, fünfzehn. Ich habe gehört, dass sie angefangen hat Drogen von einem Typen zu kaufen, den alle Trip nennen. Sie ist schwer heroinabhängig geworden. Und als sie kein Geld mehr hatte, hat Trip sie auf die Straße geschickt. Er hat sie persönlich trainiert, sie dazu gebracht bei ihm einzuziehen. Ihre Mutter ist so durch den Wind, dass sie kaum gemerkt hat, dass Angie weg war. Trip hat sie sogar auf seiner Webseite angeboten, hat sie gezwungen sich eine Tätowierung machen zu lassen, dass sie für immer ihm gehört.”

Riley war entsetzt. “Was ist mit ihr passiert?”

“Na ja, Trip wurde schließlich verhaftet und Angie ist in einer Entzugsklinik gelandet. Das war diesen Sommer, während wir in New York waren. Ich weiß nicht, was danach mit ihr passiert ist. Alles was ich weiß ist, dass sie jetzt sechzehn ist und ihr Leben ruiniert.”

“Es tut mir so leid das zu hören”, sagte Riley.

April stöhnte ungeduldig auf.

“Du verstehst es wirklich nicht, oder Mom? Dir muss gar nichts leidtun. Du hast dein ganzes Leben damit verbracht diese Art von Dingen zu verhindern. Und du hast alle möglichen Leute wie Trip ausgeschaltet – manche für immer. Aber wenn du aufhörst das zu tun, was du am besten kannst, wer soll dann für dich weitermachen? Jemand, der so gut ist, wie du? Das bezweifle ich, Mom. Das bezweifle ich wirklich.”

Riley schwieg für einen Moment. Dann drückte sie April mit einem Lächeln die Hand.

“Ich denke, ich muss einen Anruf tätigen”, sagte sie.




Kapitel Sieben


Der FBI Jet hob ab und Riley war sich sicher, dass sie wieder einmal einem Monster gegenübertreten würde. Es war ein beunruhigender Gedanke. Sie hatte gehofft, sich eine Weile von Mördern fernhalten zu können, aber diesen Job anzunehmen war ihr letztendlich wie die richtige Entscheidung erschienen. Meredith war sichtlich erleichtert gewesen, als sie ihm die Entscheidung mitgeteilt hatte.

Am Morgen war April zu ihrem Schulausflug aufgebrochen und jetzt waren Riley und Bill auf dem Weg nach Phoenix. Vor den Fenstern des Flugzeugs war der Nachmittag dunkel geworden und Regen lief über das Glas. Riley blieb angeschnallt, bis das Flugzeug die rauen Regenwolken überwunden hatte und in klarere Luft aufgestiegen war. Dann erstreckten sich unter ihnen die Wolken, die die Erde versteckten, auf der die Menschen vermutlich gerade versuchten sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen. Und, dachte Riley, ihre alltäglichen Freuden und Schrecken erlebten oder was auch immer dazwischen lag.

Sobald das Flugzeug eine stabile Fluglage erreicht hatte, drehte sich Riley zu Bill und fragte, “Was kannst du mir zeigen?”

Bill klappte seinen Laptop vor ihnen auf dem Tisch auf. Er rief das Foto eines groГџen, schwarzen MГјllsacks auf, ГјberspГјlt von seichtem Wasser. Eine tote weiГџe Hand ragte aus der Г–ffnung des MГјllsacks.

Bill erklärte, “Die Leiche von Nancy Holbrook wurde in einem künstlichen See außerhalb von Phoenix gefunden. Sie war ein dreißig Jahre altes Callgirl mit teuren Dienstleistungen. Mit anderen Worte, eine teure Prostituierte.”

“Ist sie ertrunken?” fragte Riley.

“Nein. Es scheint, dass Erstickung die Todesursache war. Dann wurde sie in den Müllsack gesteckt und in den See geworfen. Der Plastiksack wurde mit großen Steinen beschwert.”

Riley sah sich das Foto genau an. Fragen schossen ihr durch den Kopf.

“Hat der Mörder Beweise hinterlassen?” fragte sie. “Fingerabrücke, Fasern, DNA?”

“Absolut gar nichts.”

Riley schüttelte den Kopf. “Das verstehe ich nicht. Die Beseitigung der Leiche, meine ich. Warum hat sich der Mörder nicht mehr Mühe gegeben? Ein Süßwassersee ist perfekt, um eine Leiche loszuwerden. Leichen sinken und verwesen schneller in Süßwasser. Natürlich könnten sie durch Aufschwemmen und Gase später an die Oberfläche kommen. Aber genug Steine auf dem Sack würden das Problem lösen. Warum hat er sie in seichtem Wasser gelassen?”

“Ich nehme an, das müssen wir herausfinden”, sagte Bill.

Bill zeigte ihr weitere Fotos des Tatortes, aber sie sagten ihr nicht viel.

“Also, was denkst du?” fragte sie. “Haben wir es mit einem Serienmörder zu tun, oder nicht?”

Bill zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen.

“Ich weiß es nicht”, sagte er. “Bis jetzt haben wir nur eine ermordete Prostituierte. Sicherlich sind auch schon andere Prostituierte in Phoenix verschwunden. Aber das ist nichts Neues. Das passiert regelmäßig, in jeder großen Stadt im Land.”

Das Wort 'regelmäßig' hatte einen unangenehmen Klang für Riley. Wie konnte man so das Verschwinden einer bestimmten Klasse von Frauen beschreiben? Trotzdem wusste sie, dass Bill die Wahrheit sagte.

“Als Meredith angerufen hat, klang es sehr dringend”, sagte sie. “Und jetzt gibt er uns sogar die VIP Behandlung und fliegt und direkt mit dem BAU Jet hin.” Sie dachte einen Moment nach. “Seine genauen Worte waren, dass sein Freund möchte, dass wir den Mord als die Arbeit eines Serienmörders betrachten. Aber es klingt so, als wäre sich niemand sicher, dass es ein Serienmörder ist.”

Bill zuckte mit den Schultern. “Vielleicht ist es das nicht. Aber Meredith scheint Nancy Holbrooks Bruder, Garret Holbrook, sehr nahe zu stehen.”

“Ja”, nickte Riley. “Er hat mir erzählt, dass sie zusammen auf die Akademie gegangen sind. Aber die ganze Sache ist ungewöhnlich.”

Bill widersprach ihr nicht. Riley lehnte sich in ihrem Sitz zurГјck und dachte Гјber die Situation nach. Es war offensichtlich, dass Meredith die Regeln des FBI fГјr seinen Freund beugte. Das sah Meredith nicht Г¤hnlich.

Aber sie dachte deshalb nicht schlecht von ihrem Chef. Tatsächlich bewunderte sie seine Hingabe für seinen Freund. Sie fragte sich:

Gibt es jemanden, fГјr den ich die Regeln beugen oder sogar brechen wГјrde? Bill, vielleicht?

Er war viele Jahre lang ihr Partner gewesen und mehr als nur ein Freund. Trotzdem war Riley sich nicht sicher. Und das brachte sie zum Nachdenken – wie nahe stand sie ihren Mitarbeitern wirklich, Bill eingeschlossen?

Aber es lohnte sich nicht, jetzt darГјber nachzudenken. Riley schloss die Augen und schlief ein.



*



Es war ein heller, sonniger Tag, als sie in Phoenix landeten.

Als sie aus dem Jet stiegen, stieß Bill sie an und sagte, “Wow, super Wetter. Vielleicht bekommen wir wenigstens ein paar Urlaubstage aus diesem Trip.”

Riley bezweifelte, dass sie viel SpaГџ haben wГјrden. Es war schon lange her, dass sie richtigen Urlaub gemacht hatte. Ihr letzter Versuch mit April in New York, war durch die Гјblichen Morde und Schrecken unterbrochen worden, die ein so groГџer Teil ihres Lebens waren.

Eines Tages werde ich richtigen Urlaub machen mГјssen, dachte sie.

Ein junger, örtlicher Agent traf sie am Flughafen und fuhr sie zur FBI Außenstelle in Phoenix, einem beeindruckenden neuen, modernen Gebäude. Als er auf den Parkplatz des Büros fuhr, meinte er, “Cooles Design, oder? Hat sogar eine Auszeichnung bekommen. Können Sie raten, was es darstellen soll?”

Riley sah über die Fassade. Sie bestand aus geraden, langen Rechtecken und engen, vertikalen Fenstern. Alles schien sorgfältig arrangiert und das Muster kam ihr vertraut vor. Sie hielt inne und starrte es einen Moment an.

“DNA-Sequenz?” fragte sie.

“Genau”, antwortete der Agent. “Aber ich wette Sie erraten nicht, wie das Steinlabyrinth dort drüben von oben aussieht.”

Aber sie gingen zum Gebäude bevor Riley oder Bill Vermutungen anstellen konnten. Innen sah Riley das DNA-Motiv in den gemusterten Bodenfliesen reflektiert. Der Agent führte sie zu dem Büro des leitenden Spezialagenten Elgin Morley und ließ sie dort alleine.

Riley und Bill stellten sich Morley vor, einem kleinen, strebsam aussehenden Mann Mitte fГјnfzig mit einem dicken schwarzen Schnurrbart und einer runden Brille. Ein anderer Mann wartete ebenfalls auf sie in dem BГјro. Er war Mitte vierzig, groГџ, hager und leicht gebeugt. Riley dachte er sah mГјde und deprimiert aus.

Morley sagte, “Agenten Paige und Jeffreys, ich würde Ihnen gerne Agent Garrett Holbrook vorstellen. Seine Schwester ist das Opfer, das im Nimbo Lake gefunden wurde.”

Sie schüttelten sich die Hände und setzten sich.

“Danke, dass Sie gekommen sind”, sagte Holbrook. “Das Ganze ist ziemlich überwältigend.”

“Erzählen Sie uns von Ihrer Schwester”, bat Riley.

“Ich kann Ihnen nicht viel sagen”, erwiderte Holbrook. “Ich kann nicht behaupten, dass ich sie sehr gut kannte. Sie war meine Halbschwester. Mein Vater war ein fremdgehender Arsch, hat meine Mutter verlassen und Kinder von drei verschiedenen Frauen. Nancy war fünfzehn Jahre jünger als ich. Wir hatten kaum Kontakt über die Jahre.”

Er starrte mit leerem Blick auf den Fußboden vor ihm, währen seine Finger gedankenverloren an der Armlehne des Stuhls spielten. Dann, ohne aufzublicken, sagte er, “Das letzte was ich von ihr gehört hatte, war ein Bürojob und Sommerkurse am College. Das war vor ein paar Jahren. Ich war geschockt, als ich herausgefunden habe, was aus ihr geworden ist. Ich hatte keine Ahnung.”

Dann schwieg er. Riley dachte, dass er etwas unausgesprochen gelassen hatte, aber sagte sich selbst, dass es vielleicht alles war, was der Mann wusste. Was hätte Riley schließlich über ihre eigene Schwester sagen können, wenn sie jemand fragen würde? Sie und Wendy hatten schon so lange nicht mehr gesprochen, dass sie genauso gut keine Schwestern mehr sein konnten.

Trotzdem spГјrte sie mehr als Trauer in Holbrooks Verhalten. Das erschien ihr seltsam.

Morley schlug vor, dass Riley und Bill ihm zur Forensischen Pathologie folgten, wo sie sich die Leiche genauer ansehen konnten. Holbrook nickte und sagte, dass er in seinem BГјro sein wГјrde.

Während sie dem leitenden Agenten über den Flur folgten, fragte Bill, “Agent Morley, welche Gründe gibt es für die Annahme, dass es sich um einen Serienmörder handelt?”

Morley schüttelte den Kopf. “Ich bin nicht sicher, dass wir dafür einen Grund haben”, sagte er. “Aber seit Garrett von Nancys Tod erfahren hat, weigert er sich die Sache ruhen zu lassen. Er ist einer unserer besten Agenten und ich habe versucht ihm entgegenzukommen. Er hat versucht, seine eigenen Ermittlungen durchzuführen, aber ist nicht weit gekommen. Um ehrlich zu sein, ist er nicht er selbst seit die Sache angefangen hat.”

Riley war aufgefallen, wie erschГјttert Garrett zu sein schien. Vielleicht mehr, als es ein erfahrener Agent sein sollte, selbst wenn es um den Tod eines Verwandten ging. Dabei hatte er deutlich gemacht, dass sie sich nicht nahe standen.

Morley fГјhrte Bill und Riley in den Bereich der Forensischen Pathologie, wo sie dem Team-Chef, Dr. Rachel Fowler, vorgestellt wurden. Die Pathologin zog das KГјhlfach auf, in dem Nancy Holbrooks Leiche aufbewahrt wurde.

Riley zuckte bei dem vertrauten Geruch von Verwesung zusammen, auch wenn er noch nicht sehr stark war. Sie sah, dass die Frau recht klein und sehr dГјnn gewesen war.

“Sie war nicht lange im Wasser”, sagte Fowler. “Die Haut hat gerade angefangen zu knittern, als wir sie gefunden haben.”

Dr. Fowler zeigte auf die Handgelenke.

“Sie können die Fesselspuren von den Seilen sehen. Es sieht aus, als wäre sie zum Zeitpunkt des Todes gefesselt gewesen.”

Riley bemerkte vielsagende Zeichen im Ellbogen der Leiche.

“Das sieht aus wie Einstichmale”, sagte Riley.

“Genau. Sie hat Heroin geschossen. Ich nehme an, dass sie in eine schwere Abhängigkeit gerutscht ist.”

Die Frau schien magersüchtig gewesen zu sein, was zu Fowlers Theorie bezüglich der Abhängigkeit passte.

“Die Art von Abhängigkeit scheint nicht typisch für ein Luxus-Callgirl zu sein”, sagte Bill. “Woher wissen wir, dass sie eins war?”

Fowler zeigte ihnen eine laminierte Visitenkarte in einer AsservatentГјte. Darauf war ein provokatives Foto der toten Frau zu sehen. Als Name stand auf der Karte einfach 'Nanette' und die Firma hieГџ 'Ishtar Escorts.'

“Die Karte haben wir bei ihr gefunden”, erklärte Fowler. “Die Polizei hat sich mit Ishtar Escorts in Verbindung gesetzt und ihren richtigen Namen herausgefunden, was dann dazu geführt hat, dass sie als Halbschwester von Agent Holbrook identifiziert wurde.”

“Irgendeine Idee, wie sie erstickt wurde?” fragte Riley.

“Da sind Verletzungen an ihrem Hals”, sagte Fowler. “Der Mörder könnte ihr eine Plastiktüte über den Kopf gezogen haben.”

Riley sah sich die Verletzungen genauer an. Waren sie das Resultat eines schief gelaufenen Sexspiels oder ein Zeichen für vorsätzlicher Mord? Sie konnte es nicht sagen.

“Was hat sie getragen, als sie gefunden wurde?” fragte Riley.

Fowler öffnete eine Kiste, in der die Kleidung des Opfers lag. Sie hatte ein pinkfarbenes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt getragen – nicht wirklich seriös, dachte Riley, aber definitiv besser als typische Outfits von Straßenprostituierten. Es war das Kleid einer Frau, die sowohl sehr sexy, als auch passend für einen Nachtklub angezogen sein wollte.

Auf dem Kleid lag eine AsservatentГјte mit Schmuck.

“Darf ich?” fragte Riley Fowler.

“Nur zu.”

Riley nahm die Tüte aus der Kiste und sah sich den Inhalt genauer an. Das meiste war recht geschmackvoller Schmuck – eine Perlenkette, ein Armband und einfache Ohrringe. Aber ein Gegenstand stach hervor. Es war ein schmaler Goldring mit einem eingefassten Diamanten. Sie zeigte ihn Bill.

“Echt?” fragte Bill.

“Ja”, erwiderte Fowler. “Echtes Gold und echter Diamant.”

“Der Mörder hat sich nicht die Mühe gemacht ihn mitzunehmen”, kommentierte Bill. “Also ging es nicht um Geld.”

Riley wandte sich an Morley. “Ich würde gerne sehen, wo die Leiche gefunden wurde”, sagte sie. “Jetzt gleich, solange es noch hell ist.”

Morley sah sie leicht verwundert an.

“Wir können Sie mit dem Hubschrauber hinbringen”, sagte er. “Aber ich weiß nicht, was Sie sich davon versprechen. Die Polizei und unsere Agenten haben alles durchkämmt.”

“Vertrauen Sie ihr”, sagte Bill wissend. “Sie findet etwas.”




Kapitel Acht


Die große Oberfläche des Nimbo Lake sah still und friedlich aus, als der Helikopter sich ihm näherte.

Aber Aussehen kann trügen, ermahnte Riley sich selbst. Sie wusste nur zu gut, welche dunklen Geheimnisse unter einer ruhigen Oberfläche liegen konnten.

Der Helikopter sank in Richtung Boden und schwebte einen Moment schwankend, auf der Suche nach einem Landeplatz. Rileys Magen rebellierte gegen die unstete Bewegung. Sie mochte Helikopter nicht besonders. Sie sah zu Bill, der neben ihr saГџ. Ihm schien es Г¤hnlich zu gehen.

Aber als sie einen Blick auf Agent Holbrook warf, kam der ihr seltsam unbewegt vor. Er hatte kaum ein Wort gesprochen auf dem halbstündigen Flug von Phoenix. Riley wusste noch nicht, was sie von ihm halten sollte. Sie war es gewohnt Leute einfach lesen zu können – manchmal einfacher, als ihr lieb war. Aber Holbrook war ihr ein Rätsel.

Der Helikopter fand schließlich einen Platz zum Landen und alle drei FBI Agenten stiegen aus, während sie ihre Köpfe unter den noch rotierenden Hubschrauberrotoren duckten. Die Straße, auf der der Helikopter gelandet war, bestand aus nicht mehr, als parallelen Autospuren im Gras.

Riley bemerkte, dass die Straße nicht häufig genutzt zu werden schien. Trotzdem waren offenbar genug Fahrzeuge in der letzten Woche darüber gefahren, um jegliche Spuren zu verdecken, die auf das Fahrzeug des Mörders hätten schließen lassen können.

Der laute Helikoptermotor erstarb und erleichterte die Unterhaltung, während Riley und Bill Holbrook folgten.

“Was können Sie uns über diesen See erzählen?” fragte Riley Holbrook.

“Er ist einer von mehreren Reservoirs, die durch Staudämme entlang des Acacia Flusses erzeugt werden”, sagte Holbrook. “Das ist der kleinste der künstlichen Seen. Er ist mit Fischen besetzt und er ist ein beliebter Erholungsort, aber die öffentlichen Bereiche sind auf der anderen Seite des Sees. Die Leiche wurde von einem Teenager Pärchen entdeckt, die hier Marihuana geraucht haben. Ich zeige Ihnen die Stelle.”

Holbrook fГјhrte sie von der StraГџe zu einem Steinwall, der den See Гјberblickte.

“Die Kinder waren genau hier, wo wir jetzt stehen”, sagte er. Er zeigte auf den Rand des Sees. “Sie haben dort etwas gesehen. Sie sagen, dass es einfach wie eine dunkle Form im Wasser aussah.”

“Zu welcher Tageszeit waren die Kinder hier?” fragte Riley.

“Etwas früher als jetzt”, sagte Holbrook. “Sie hatten die Schule geschwänzt, um Joints zu rauchen.”

Riley überblickte die Szene, die sich vor ihr ausbreitete. Die Sonne stand tief und die Spitzen der roten Steilwände auf der anderen Seite des Flusses leuchteten auf. Es waren einige Boote auf dem Wasser. Von dem Steinwall aus war es nicht weit bis zum Wasser – wahrscheinlich nicht mehr als drei Meter.

Holbrook zeigte auf einen Punkt in der Nähe, an dem der Abhang nicht so steil war.

“Die Kinder sind dort heruntergeklettert, um sich die Sache näher anzugucken”, sagte er. “Da haben sie herausgefunden, was es wirklich ist.”

Arme Kinder, dachte Riley. Es war fast zwanzig Jahre her, seit sie Marihuana im College versucht hatte. Trotzdem konnte sie sich den gesteigerten Schock vorstellen, den so eine Entdeckung unter dem Einfluss der Drogen ausgelöst haben musste.

“Willst du hinunterklettern und es dir näher ansehen?” fragte Bill.

“Nein, der Blick hier ist gut”, sagte Riley.

Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es genau der Ort war, an dem sie sein musste. Schließlich war es unwahrscheinlich, dass der Mörder die Leiche den gleichen Abhang hatte herunterrollen lassen, den die Kinder heruntergeklettert waren.

Nein, dachte sie. Er stand genau hier.

Es sah sogar so aus, als wäre die Vegetation hier noch immer etwas heruntergedrückt.

Sie atmete tief durch und versuchte sich in seinen Kopf zu versetzen. Er war zweifellos in der Nacht gekommen. Aber war es eine klare Nacht oder eine bewölkte? Zu dieser Jahreszeit in Arizona standen die Chancen gut, dass es eine klare Nacht gewesen war. Und sie erinnerte sich daran, dass der Mond eine Woche zuvor hell gewesen sein musste. Im Licht des Mondes und der Sterne hatte er vermutlich sehr gut sehen könne, was er tat – auch ohne eine Taschenlampe.

Sie stellte sich vor, wie er die Leiche hier ablegte. Aber was hatte er dann getan? Offenbar hatte er die Leiche Гјber den Rand gerollt. Sie war direkt unter ihm in das seichte Wasser gefallen.

Aber etwas an dem Szenario kam Riley seltsam vor. Sie fragte sich wieder, wie er so unvorsichtig hatte sein können.

Sicher, von hier oben aus hatte er vermutlich nicht sehen können, dass die Leiche nicht tief gesunken ist. Die Kinder hatten den Müllsack als “dunkle Form im Wasser” beschrieben. Von dieser Höhe war der Sack wahrscheinlich nicht einmal in einer klaren Nacht sichtbar gewesen. Er hatte angenommen, dass die Leiche gesunken war, wie es frische Leichen in Süßwasser tun, vor allem, wenn sie mit Steinen beschwert sind.

Aber warum hatte er angenommen, dass das Wasser hier tief ist.

Sie blickte hinunter in das klare Wasser. In der späten Nachmittagssonne konnte sie leicht den Vorsprung sehen, auf dem die Leiche gelandet war. Es war eine kleine horizontale Fläche, nicht mehr, als die Spitze eines Felsens. Darum herum war das Wasser schwarz und tief.

Sie blickte Гјber den See. Scharfe Felsen ragten Гјberall aus dem Wasser. Sie konnte sehen, dass der Nimbo See ein tiefer Canyon gewesen war, bevor der Damm ihn mit Wasser gefГјllt hatte. Es gab nur wenige Orte, an denen man am Ufer entlanggehen konnte. Die Seite der Steilwand fiel direkt in die Tiefe.

Zu ihrer Rechten und Linken sah Riley Steinwälle, die dem ähnelten, auf dem sie jetzt standen, etwa in der gleichen Höhe. Das Wasser unter diesen Abhängen war dunkel und zeigte keine Anzeichen von möglichen Felsvorsprüngen.

Sie spГјrte ein Kribbeln.

“Er hat das schon einmal getan”, sagte sie Bill und Holbrook. “In diesem See ist noch eine andere Leiche.”



*



Auf dem Helikopterflug zurück zum Hauptbüro der FBI Außenstelle in Phoenix sagte Holbrook, “Also denken Sie, dass es doch ein Serienmörder ist?”

“Ja, das denke ich”, erwiderte Riley.

Holbrook sagte, “Ich war mir nicht sicher. Ich wollte vor allem jemanden an den Fall bekommen, der gut ist. Aber was haben Sie gesehen, dass Sie überzeugt hat?”

“Da waren andere Steinwälle, die genauso aussahen, wie der, von dem er diese Leiche geworfen hat”, erklärte sie. “Er hat einen von ihnen schon vorher genutzt und die Leiche ist so gesunken, wie sie es sollte. Aber vielleicht hat er die gleiche Stelle nicht gefunden. Oder vielleicht dachte er, das ist die gleiche Stelle. Wie auch immer, er hat das gleiche Resultat erwartet. Er hat einen Fehler gemacht.”

Bill nickte anerkennend. “Ich habe Ihnen gesagt, Sie findet etwas.”

“Taucher werden den See absuchen müssen”, fügte Riley hinzu.

“Das wird dauern”, zögerte Holbrook.

“Es muss trotzdem gemacht werden. Da unten ist irgendwo eine andere Leiche. Darauf können Sie sich verlassen. Ich weiß nicht, wie lange die schon dort ist, aber sie ist da.”

Sie hielt inne und dachte darüber nach, was das über die Persönlichkeit des Mörders sagte. Er war fähig und kompetent. Das war kein armseliger Verlierer wie Eugene Fisk. Er war mehr wie Peterson, der Mörder, der sowohl sie, als auch April, gefangen gehalten und gefoltert hatte. Er war scharfsinnig und selbstbeherrscht, und er genoss es zu töten – eher ein Soziopath als ein Psychopath. Vor allem war er selbstsicher.

Vielleicht mehr als ihm gut tut, dachte Riley.

Das könnte seine Achillesferse sein.

Sie sagte, “Der Mann, nach dem wir suchen, ist kein kleiner Krimineller. Ich glaube, dass er ein normaler Bürger ist, recht gut ausgebildet, vielleicht mit Frau und Familie. Niemand, der ihn kennt, denkt, dass er ein Mörder ist.”

Riley beobachtete Holbrooks Gesicht, während sie sprach. Auch wenn sie jetzt etwas über den Fall wusste, was ihr vorher nicht bewusst gewesen war, kam ihr Holbrook immer noch vollkommen undurchdringlich vor.

Der Helikopter zirkelte über dem FBI Gebäude. Die Dämmerung hatte eingesetzt und die Fläche unter ihnen war hell erleuchtet.

“Schau mal”, sagte Bill und zeigte aus dem Fenster.

Riley sah nach unten. Sie war überrascht zu sehen, dass der Steingarten wie ein gigantischer Fingerabdruck aussah. Er erstreckte sich unter ihnen wie ein Willkommensschild. Ein ungewöhnlicher Landschaftsarchitekt hatte entschieden, dass dieses Bild aus Steinen besser zu dem neuen FBI Gebäude passte, als ein bepflanzter Garten. Hunderte von beträchtlichen Steinen waren sorgfältig in geschwungenen Reihen platziert worden, um die Illusion zu erzeugen.

“Wow”, hauchte Riley. “Wessen Fingerabdruck glaubst du, haben sie genutzt? Ich nehme an jemand bekanntes. Dillinger, vielleicht?”

“Oder vielleicht John Wayne Gacy. Oder Jeffrey Dahmer.”

Riley fand den Anblick seltsam beunruhigend. Auf dem Boden wГјrde niemand annehmen, dass die Steine mehr waren, als ein bedeutungsloses Labyrinth.

Es kam ihr fast wie ein Zeichen und eine Warnung vor. Der Fall würde verlangen, dass sie die Dinge aus einer neuen und beunruhigenden Perspektive betrachtete. Sie würde Regionen der Dunkelheit erforschen müssen, die selbst sie sich nicht hätte vorstellen können.




Kapitel Neun


Dem Mann gefiel es, die Nutten auf der Straße zu beobachten. Er mochte es, wie sie zusammen in einer Ecke standen und auf dem Bürgersteig auf und ab stöckelten, meistens zu zweit. Sie waren lebhafter als Callgirls oder Escorts, zeigten schneller ihr Temperament.

Beispielsweise sah er jetzt gerade eine von ihnen eine Gruppe von ungehobelten jungen Kerlen verfluchen, die aus einem langsam fahrenden Auto heraus ein Foto von ihr gemacht hatten. Der Mann konnte ihr das nicht verübeln. Schließlich war sie zum Arbeiten hier, nicht als Verschönerung der Landschaft.

Wo bleibt da der Respekt? dachte er mit einem Grinsen. Die Jugend von heute.

Jetzt lachten die Typen sie aus und riefen Obszönitäten. Aber sie waren ihren farbenfrohen Antworten nicht gewachsen, einige davon in Spanisch. Er mochte ihren Stil.

Er mischte sich heute unter das gemeine Volk, parkte vor einer Reihe billiger Motels, bei denen sich die Straßenmädchen versammelten. Die anderen Mädchen waren im Vergleich zu der, die geflucht hatte, weniger lebendig. Ihre Versuche sexy auszusehen, wirkten eher peinlich und ihre Anmachen waren plump. Während er zusah, hob eine von ihnen ihren Rock hoch, um einem langsam vorbeifahrenden Fahrer ihre knappe Unterwäsche zu zeigen. Der Fahrer hielt nicht an.

Er behielt weiter das Mädchen im Auge, das ihm aufgefallen war. Sie stapfte verärgert herum und beschwerte sich bei den anderen.

Der Mann wusste, dass er sie haben könnte, wenn er wollte. Sie könnte sein nächstes Opfer sein. Alles was er tun musste, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, war langsam am Bordstein entlang auf sie zuzufahren.

Aber nein, das würde er nicht tun. Das tat er nie. Er näherte sich keinen Nutten auf der Straße. Es lag an ihnen zu ihm zu kommen. Es war das gleiche mit den Huren, die er durch eine Agentur oder ein Bordell traf. Er brachte sie dazu sich irgendwo alleine mit ihm zu treffen, ohne direkt danach zu fragen. Es schien immer ihre Idee zu sein.

Mit etwas Glück würde das lebhafte Mädchen sein teures Auto bemerken und in seine Richtung kommen. Sein Auto war wundervolle Beute. Genauso wie die Tatsache, dass er gut angezogen war.

Aber wie auch immer die Nacht endete, er musste vorsichtiger sein, als beim letzten Mal. Er war nachlässig gewesen, hatte die Leiche über die Kante gerollt und erwartet, dass sie sank.

Und was fГјr einen Aufruhr sie verursacht hatte! Die Schwester eines FBI Agenten! Und sie hatten die schweren GeschГјtze aus Quantico eingeflogen. Das gefiel ihm nicht. Er hatte es nicht auf Bekanntheit oder Ruhm abgesehen. Alles was er wollte, war seinen GelГјsten nachzugeben.

Und hatte er nicht jedes Recht dazu? Welcher gesunde, erwachsene Mann hatte nicht dieses Verlangen?

Jetzt wГјrden sie Taucher in den See schicken und dort nach Leichen suchen. Er wusste, was sie dort finden wГјrden, selbst nach etwas mehr als drei Jahren. Das gefiel ihm gar nicht.

Es war nicht aus Sorge um sich selbst. Seltsamerweise hatte er ein schlechtes Gewissen dem See gegenüber. Der Gedanke an Taucher, die jede Spalte und Nische durchsuchten, erschien ihm obszön und aufdringlich, ein unentschuldbarer Übergriff. Schließlich hatte der See ja nichts falsch gemacht. Warum sollte er belästigt werden?

Wie auch immer, er machte sich keine Sorgen. Sie würden die beiden Opfer nie zu ihm zurückverfolgen können. Das würde einfach nicht passieren. Aber er war fertig mit dem See. Er hatte sich noch nicht entschieden, wo er das nächste Opfer beseitigen würde, aber er war sich sicher, dass er zu einer Entscheidung kommen würde, bevor die Nacht vorbei war.

Jetzt schaute das lebhafte Mädchen auf seinen Wagen. Sie fing an mit schwingenden Hüften auf ihn zuzukommen.

Er rollte das Beifahrerfenster herunter und sie steckte ihren Kopf herein. Sie war eine dunkelhäutige Latina, mit dickem Eyeliner, buntem Lidschatten und geschwungenen Augenbrauen, die tätowiert zu sein schienen. Ihre Ohrringe waren große, goldfarbene Kreuze.

“Netter Wagen”, sagte sie.

Er lächelte.

“Was macht ein nettes Mädchen wie du noch so spät hier draußen?” fragte er. “Ist es nicht schon längst Schlafenszeit?”

“Vielleicht möchtest du mich ins Bett bringen”, sagte sie lächelnd.

Ihre Zähne kamen ihm erstaunlich sauber und gerade vor. Tatsächlich sah sie insgesamt sehr gesund aus. Das war sehr selten hier auf der Straße, wo die meisten Frauen sich in variierenden Etappen einer Meth-Abhängigkeit befanden.

“Ich mag deinen Stil”, sagte er. “Sehr chola.”

Ihr Lächeln wurde breiter. Er konnte sehen, dass sie es als Kompliment auffasste ein Latina Gangbanger genannt zu werden.

“Wie heißt du?” fragte er.

“Soccoro.”

Ah, “socorro”, dachte er. Spanisch für “helfen”.

“Ich wette du bist großartig im socorro”, sagte er anzüglich.

Ihre dunkelbraunen Augen starrten genauso anzüglich zurück. “Du siehst aus, als könntest du gerade ein wenig socorro gebrauchen.”

“Vielleicht könnte ich das”, sagte er.

Aber bevor er einen Preis verhandeln konnte, hielt ein Wagen auf dem Platz neben ihm. Er hörte einen Mann aus dem Fahrersitz rufen.

“¡Socorro!” rief er. “¡Vente!”

Das Mädchen richtete sich auf, wobei sie wenig überzeugend einen genervten Gesichtsausdruck zeigte.

“¿Porqué?” rief sie zurück.

“Vente aquí, ¡puta!”

Der Mann entdeckte eine Spur von Angst in den Augen des Mädchens. Das lag sicher nicht daran, dass der Mann im Auto sie eine Hure genannt hatte. Er nahm an, dass der Mann ihr Zuhälter war und kontrollierte, wie viel Geld sie bis jetzt gemacht hatte.

“¡Pinche Pablo!” Sie murmelte die Beleidigung für jede Gelegenheit vor sich hin. Dann ging sie in Richtung des Autos.

Der Mann blieb sitzen und fragte sich, ob sie zurГјckkommen wГјrde und noch mit ihm mitfahren wollte. So oder so, es gefiel ihm nicht. Warten war nicht sein Stil.

Sein Interesse an dem Mädchen schwand. Nein, er würde sich nicht die Mühe machen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Glück sie hatte.

Außerdem, was machte er hier überhaupt in dieser heruntergekommenen Ecke? Sein nächstes Opfer sollte stilvoller sein.

Chiffon, dachte er. Er hatte Chiffon schon fast vergessen. Aber vielleicht sollte ich sie mir lieber fГјr eine besondere Gelegenheit aufsparen.

Er konnte warten. Es musste nicht heute sein. Er fuhr davon, suhlte sich in seiner Selbstbeherrschung, trotz der enormen GelГјste, die er verspГјrte. Er hielt das fГјr eine seiner besten Eigenschaften.

SchlieГџlich war er ein sehr zivilisierter Mann.




Kapitel Zehn


Die drei jungen Frauen im Befragungsraum sahen nicht so aus, wie Riley erwartet hatte. Sie hatte sie kurz durch den Einwegspiegel betrachtet. Sie waren geschmackvoll angezogen, fast wie gut bezahlte Sekretärinnen. Ihr war mitgeteilt worden, dass ihre Namen Mitzi, Koreen und Tantra waren. Natürlich war Riley sich sicher, damit nicht ihre richtigen Namen zu kennen.

Riley bezweifelte außerdem, dass sie sich genauso ordentlich anzogen, wenn sie arbeiteten. Für 250 Dollar pro Stunde hatten sie sicherlich in aufwendige Garderoben investiert, um die Fantasien von jedem Kunden erfüllen zu können. Sie waren Kolleginnen von Nancy “Nanette” Holbrook bei Ishtar Escorts. Die Kleidung, die Nancy Holbrook zum Zeitpunkt ihres Todes getragen hatte, war deutlich weniger stilvoll gewesen. Aber, nahm Riley an, wenn sie nicht gerade bei der Arbeit waren, wollten die Frauen wahrscheinlich respektabel aussehen.

Auch wenn Prostituierte schon vorher in Fällen eine Rolle gespielt hatten, die Riley untersuchte, war es doch das erste Mal, dass sie so nah und unvermittelt mit ihnen zusammenarbeiten würde. Diese Frauen waren selber potenzielle Opfer. Sie könnten sogar potenzielle Verdächtige sein, auch wenn so gut wie alle Morde dieser Art von Männern ausgeführt wurden. Riley war sich sicher, dass keine dieser Frauen die Art von Monster waren, die sie jagte.

Es war später Sonntagnachmittag. Am Abend zuvor hatten Riley und Bill ihre separaten, gemütlichen Hotelzimmer bezogen, nicht weit vom FBI Gebäude entfernt. Riley hatte mit April telefoniert, die in einem Hotel in Washington, DC, angekommen war. April war fröhlich und aufgekratzt gewesen und hatte ihre Mutter gewarnt, dass sie nicht wirklich Zeit für Telefonanrufe hatte. “Ich texte dir Morgen”, hatte April gerufen und versucht das Stimmengewirr im Hintergrund zu übertönen.

Riley hatte das Gefühl, das bereits zu viel des Tages verschwendet worden war. Es hatte fast den ganzen Tag gedauert die Prostituierten ausfindig zu machen und ins Büro zu bringen. Riley hatte Spezialagent Elgin Morley gesagt, dass sie mit den Frauen alleine reden wollte. Vielleicht wären sie offener, wenn keine Männer zugegen waren. Jetzt wollte sie die Frauen zunächst beobachten und ihnen ungesehen zuhören, bevor sie den Raum betrat. Durch die Lautsprecher konnte sie die Unterhaltung hören.

Ihr Stil und ihre Persönlichkeiten waren markant. Die kleine, blonde, dralle Mitzi zeigte ein gewisses Kleinstadt-, Mädchen-von-nebenan-Image.

“Also, hat Kid dich gefragt?” wollte Mitzi von Koreen wissen.

“Noch nicht”, erwiderte Koreen mit einem verschwörerischen Lächeln. Sie war eine schlanke Brünette mit einem Hauch der Eleganz einer Ballerina. “Ich glaube aber, dass er den Ring gekauft hat.”

“Will er immer noch vier Kinder haben?” fragte Mitzi.

Koreen lachte laut auf. “Ich habe ihn auf drei heruntergehandelt. Aber nur unter uns, er bekommt nicht mehr als zwei.”

Mitzi stimmte in Koreen Lachen ein.

Tantra gab Koreen einen kleinen Schubs mit dem Ellbogen. Sie war eine große Afroamerikanerin mit einem hellen Teint. Sie schien die glamouröse Ausstrahlung eines Supermodels zu haben.

“Sorg' nur dafür, dass er nicht herausfindest, was du beruflich machst, Mädel”, sagte Tantra.

Alle drei Frauen lachten fröhlich. Riley war überrascht. Diese drei Prostituierten redeten darüber Familien zu haben, wie jede andere Frau beim Frisör. War diese Art von Normalität wirklich auch nur für eine von ihnen möglich? Sie konnte sich das nicht vorstellen.

Riley entschied, dass die Frauen lange genug gewartet hatten. Als sie den Raum betrat, konnte sie spüren, wie sich die entspannte Atmosphäre sofort zerschlug. Jetzt waren die Frauen sichtlich nervös.

“Ich bin Agentin Riley Paige”, sagte sie. “Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.”

Alle drei Frauen stöhnten auf.

“Oh Gott, nicht noch mehr Fragen!” sagte Mitzi. “Wir haben schon mit der Polizei geredet.”

“Ich stelle meine Fragen lieber selber, wenn es Ihnen nichts ausmacht”, sagte Riley.

Mitzi schüttelte den Kopf. “Das fühlt sich langsam an wie Belästigung”, sagte sie.

“Was wir machen ist vollkommen legal”, sagte Koreen.

“Es ist mir egal, was Sie machen”, sagte Riley. “Ich bin FBI Ermittlerin, kein Richter.”

Koreen murmelte kaum hörbar, “Als ob.”

Mitzi sah auf ihre Armbanduhr. “Können wir es kurz machen?” fragte sie. “Ich habe noch drei Klassen heute.”

“Wie viele Credits machst du dieses Semester?” fragte Koreen.

“Zwanzig”, erwiderte Mitzi.

Koreen sog scharf die Luft ein. “Das ist �ne ganz schöne Menge.”




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